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“Dieses Ringen um gute und präzise Argumente hat uns interessiert” Interview mit den Filmemachern Melanie Liebheit und Gereon Wetzel Post2PDF

Im Film stehen mehrere Themen im Fokus: der komplexe Ablauf des Wettbewerbs, die Vorbereitungen der Studierenden, der eigens für den Wettbewerb konstruierte Fall, aber auch die persönliche Entwicklung der Protagonisten. Was war Ihnen zu Beginn der Dreharbeiten besonders wichtig?

Gereon Wetzel: In der Vorbereitungsphase haben wir zunächst einen Fokus auf die Entwicklung der Studierenden gelegt. Wie würde die juristische Recherche über die komplexen Zusammenhänge des Falls ihre persönliche Haltung zu Massenüberwachung und Cyberkrieg verändern? Schnell wurde allerdings deutlich, dass es ja genau darum nicht geht. Also natürlich hatte jeder der Teilnehmer eine dezidierte Meinung zu diesem oder jenem, aber mit der Arbeit an dem Fall und der Aufteilung in Anwälte der jeweiligen Seite mussten sich alle zunehmend parteiisch geben und dies verwischte dann auch die realen Ansichten zur Thematik, ähnlich wie bei einem Schauspieler, der immer stärker in seine Rolle schlüpft. Die sichtbare Entwicklung fand vielmehr in den jeweiligen rhetorischen Fähigkeiten statt, wie die Teilnehmer als Anwälte zu überzeugen wussten.

Melanie Liebheit: Da wir die Studierenden, die vorher auch keinerlei Ahnung von Völkerrecht hatten, von Anbeginn begleitet haben und mit ihnen gemeinsam in den Fall eingestiegen sind, haben wir die Chance gesehen, sich auf für Laien verständliche Weise den juristischen und gesellschaftlich brisanten Fragen nach Spionage beziehungsweise Massenüberwachung und Cyberkriminalität im Völkerrecht zu nähern. Der Wettbewerb hat dabei für den dramaturgischen Rahmen gesorgt, denn es war von Anfang an klar, dass sie als Anfänger starten und sich sowohl in juristischer als auch in rhetorischer Hinsicht enorm entwickeln müssen, um am Ende bestehen zu können. Die Studierenden bei diesem Prozess zu begleiten, war für uns in der Anlage des Filmprojekts erst einmal spannend.

Schon der Titel des Films “Die Kunst der Widerrede” deutet an, dass das Fach der Rechtswissenschaften im Film eine zentrale Rolle spielt. Es wird als ein ebenso schwieriges, weil hochspezialisiertes, aber auch als überraschend spannendes Metier gezeigt, das in der Diskussion der Protagonisten und der Dynamik des Wettbewerbs lebendig wird. Woher stammt Ihr Interesse an diesem speziellen Fachgebiet?

Melanie Liebheit: Mein Vater war Richter, insofern bin ich mit den Diskussionen über Rechtsstreitigkeiten und Rechtsfragen groß geworden. Vieles in der Juristerei ist Auslegungssache und eine Frage der Argumentation, was letztendlich die Urteilsfindung beeinflusst. Dieses Ringen um gute und präzise Argumente, um seine Position durchzubringen, hat uns interessiert. Es gibt kaum Filme über das Justizsystem, höchstens über Justizskandale oder besonders prominente Fälle. Die juristische Routine ist sozusagen ein weißer filmischer Fleck auf der Dokumentarfilm-Landkarte. Es hat uns gereizt, einen filmisch spannenden Zugang zu diesem vermeintlich trockenen Fachgebiet zu finden.

Die Gestaltung der Ton-Ebene des Films oder auch die besonderen Perspektiven der Kamera, zum Beispiel über Bildschirme der Handys und Computer, unterstreichen ein weiteres Thema des Films: digitale Überwachung. Warum war es Ihnen wichtig, auch dieses hervorzuheben?

Gereon Wetzel: Ich denke, wir wären wohl nicht so einfach von diesem Filmprojekt zu überzeugen gewesen, wenn der fiktive Fall nicht diese starken Implikationen und diesen sehr aktuellen Realitätsbezug gehabt hätte. Daher war für uns der Inhalt und was man über dieses Gebiet selbst lernen kann, von großer Wichtigkeit. Die Studierenden und auch wir haben ja zum Teil einen sehr laxen Umgang mit unseren eigenen Daten. So war es natürlich paradox, dass die Teilnehmer permanent von einem Kamerateam umgeben waren, während sie über Massenüberwachung recherchierten. Irgendwann steigert man sich auch in eine Art Paranoia hinein und sieht in herumliegenden Handys nur noch die Möglichkeit von mitlaufenden Mikrofonen, oder die Laptopkameras regen die Phantasie an, was der Geheimdienst wohl gerade für Informationen über uns sammelt. Das führte dann irgendwann dazu, dass einige ihre Kameras abklebten. Dies alles war natürlich eine Steilvorlage für das Verwenden einer bestimmten Überwachungsästhetik in Bild und Ton.

Der Film hat einen nüchternen, beobachtenden Erzählstil, ohne Off-Sprecher oder sonstige Kommentare, gleichzeitig birgt er aber auch nahezu fiktionale Elemente. Hatten Sie spezielle filmische Vorbilder, die Sie zu diesem Film und seiner Form inspiriert haben?

Gereon Wetzel: Ich würde den Erzählstil gar nicht als so nüchtern bezeichnen. Immerhin gibt es einen relativ starken Einsatz von Musik, immer wieder Teile einer trailerartigen Verdichtung und viele aus der reinen Beobachtung entstandenen emotionalen Spitzen, die mittels eines hohen Schnittrhythmus zugespitzt werden. Nüchtern vielleicht dahingehend, dass wir - wie in allen unseren Filmen - Interviewsituationen und erklärende Texte aus dem Off eher vermeiden, um der Kraft des Dialogischen und Szenischen nicht den Raum zu nehmen. Vieles erklärt sich bei genauerem Zusehen von selbst und da, wo wir uns von Erklärungszwang befreien wollten, setzten wir kurze Texttafeln ein. Für mich, aber auch für Melanie Liebheit spielen die Filme des sogenannten Direct Cinema eine sehr stilprägende Rolle. Filme der US-Amerikaner wie Pennebaker, Leacock und der Brüdern Maysles aus den frühen 60er Jahren setzten mit den nun tragbaren Kameras auf die reine Beobachtung und das Erzählen von Prozessen durch eine ständige Anwesenheit der Kamera und das dadurch entstandene Vertrauensverhältnis mit den Protagonisten.

Melanie Liebheit: Was die fiktionale Ebene betrifft, so war relativ früh klar, dass wir den juristischen Fall, um den es in den Verhandlungen geht, in groben Zügen nachzeichnen müssen, damit überhaupt verständlich wird, worüber die Studierenden die ganze Zeit reden. Da der Fall selber wie ein Spionagekrimi geschrieben war und somit in sich schon spannend zu lesen war, haben wir uns dazu entschlossen, Passagen daraus für die Off-Erzählung zu nehmen. Das heißt, wir sind mit unseren Texten sehr nah am Original - auch die wörtlichen Reden waren größtenteils so im Originalfall angelegt. Auf der Bildebene haben wir uns dann für ruhige und lange Einstellungen entschieden mit klaren Bildinhalten, die nicht vom Gesagten ablenken. Hinzu kam dann noch die musikalische Untermalung mit einem Spannungsmotiv, die diese Passagen nochmals heraus gehoben hat. Stephan Diethelm, der Komponist, arbeitete hierfür mit Instrumenten die rein aus Glas gefertigt sind. Die Herausforderung war dann, die rein beobachtende Erzählebene geschickt mit der fiktiven Erzählebene des Falls zu verbinden.

“Die Kunst der Widerrede” ist Ihre erste gemeinsame Arbeit als Autoren-Team, wie kam die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden zustande?

Melanie Liebheit: Gereon Wetzel und ich kennen uns von unserem Studium an der Filmhochschule München, wo wir beide Dokumentarfilm studiert haben. Darüber hinaus verbindet uns, wie Gereon eben schon beschrieben hat, dass wir beide die beobachtende Erzählform schätzen und gerne Prozesse filmisch begleiten. Diese Form des Arbeitens erfordert Zeit und Geduld, denn es geht häufig darum, einfach vor Ort zu sein und auf die richtigen Momente zu warten. Als Regie-Duo zu arbeiten hat den großen Vorteil, dass wir gleichzeitig die beiden Funktionen Kamera und Ton übernehmen können und stets gemeinsam entscheiden, ob wir in Situationen ausharren, wenn wir meinen, es ist für die filmische Erzählung notwendig.

Die Dreharbeiten liegen inzwischen fast drei Jahre zurück. Was ist aus den vier Protagonisten geworden?

Gereon Wetzel: Zwei der Trainer arbeiten inzwischen in Bundesbehörden und haben auch tatsächlich mit dem Themenfeld des Datenschutzes zu tun. Der dritte Trainer assistiert momentan einem Richter des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, er kann sozusagen nun aus nächster Nähe beobachten, wie wichtige völkerrechtliche Entscheidungen zustandekommen. Die Studierenden haben inzwischen ihr Studium abgeschlossen. Clemens, Nina und Mahja haben ihren Schwerpunkt im Völkerrecht gefunden und die beiden ersteren fungierten auch als Trainer für die nachfolgenden Generationen von “Mooties”. Clemens führte zum Beispiel das Team 2018 als Rhetorik-Coach bis ins Viertelfinale der internationalen Runden in Washington.

Es liegt nahe, dass Sie viel Drehmaterial aus dramaturgischen Gründen nicht im Film zeigen konnten. Gibt es daraus etwas, das es zwar nicht in den Film geschafft hat, Ihnen aber am Herzen lag?

Melanie Liebheit: Wir haben die Dreharbeiten eigentlich mit dem Auswahlprozess des Teams begonnen. In dem Jahr, als wir gefilmt haben, hatten sich in München über zwanzig Studierende für den Jessup Moot Court beworben. Die Bewerber mussten ein dreistufiges Bewerbungsverfahren durchlaufen, bis die Coaches sich dann für die Zusammensetzung des Teams aus den vier Personen, die man im Film sieht, entschieden haben. Dieser ganze Aspekt ist leider rausgefallen, hätte aber einfach den Rahmen gesprengt. Darüber hinaus waren wir im gesamten Schnittprozess damit beschäftigt die Komplexität des Falls und der juristischen Argumentation zu reduzieren und uns auf einzelne wenige Aspekte und Themen zu konzentrieren. Da sind einige schöne Gesprächspassagen dem Schnitt zum Opfer gefallen, die aber für die gesamte Filmdramaturgie nicht wichtig oder gar bremsend gewesen wären.

Interview: Benedikt Hansen (3Sat)

Völkerrecht unter Beobachtung: “Die Kunst der Widerrede” und die Ästhetik des Dokumentarfilms Post2PDF

Julia Faisst

Melanie Liebheits und Gereon Wetzels Dokumentarfilm “Die Kunst der Widerrede” spielt gekonnt mit der Lust des Zuschauers, geheime und nicht so geheime Prozesse zu erspähen. Zum einen verhandelt der Film hochaktuelle politische Themen, die sich verändernde Weltordnungen widerspiegeln: Massenüberwachung, Datenklau, Cyberkrieg, Ökoterrorismus. Zum anderen beobachten wir vier Münchner Jura-Studierende, die sich auf die „Weltmeisterschaft in Jura“ vorbereiten, den legendären Jessup Moot Court. Auf der Grundlage eines fiktiven Falls, der dem Snowden-Fall ähnelt, schlüpfen die vier in die Rolle von Anwälten, um gegen andere Teams den Rechtsstreit zweier erfundener Staaten auszufechten.
Schnell wird klar, dass nicht nur ihre Argumente hieb- und stichfest sein müssen, sondern auch die Art und Weise, wie sie ihre Argumente vorbringen. Dass die hochkarätig besetzte Richterbank (auch) eine Bühne ist, und die Vertreter des Rechts (auch) Schauspieler machen die Regisseure von Anfang an deutlich. Herz ihres Dokumentarfilms sind die Vorbereitungen auf den Fall, ganz wie in einer Casting-Show. Der Titel von Gereon Wetzels Werkschau, im Rahmen dessen der Film am 5.2.2019 im Eichstätter Filmtheater lief, ist Programm: „Beobachtung | Prozess“. “Die Kunst der Widerrede” nimmt den Prozess zum Thema und den Zuschauer mit auf Beobachtungsreise. So verfolgen wir die Jura-Studis bei ihren Recherchen zum Völkerrecht, beobachten sie bei nächtlichen Sitzungen in nüchternen Seminarräumen, wo sie mit der Hilfe von Coaches an möglichst würdevoller Körperhaltung arbeiten, wir werden Zeuge ihrer Anspannung. Immer auf der Suche nach dem gut gemachten Argument, sind die Studis mal aufgeregt, mal cool—und wirken durchweg authentisch.
Wir beobachten, wie viel Kunst darin steckt, rhetorisch überzeugend zu argumentieren, wie die jungen Leute ihr Auftreten perfektionieren, um in ihren Verhandlungen immer sicherer werden. Der Jessup Moot Court bietet die perfekte Gelegenheit zum Crashkurs: wie werde ich Expertin für Völkerrecht in sechs Monaten; aber auch: wie werde ich Experte für souveränes Auftreten. Mit der Hilfe von Handy-Kameras beobachten sich die Studis dabei selbst und setzen sich so auch mit der Rolle derer, die gefilmt werden, auseinander. Liebheits und Wetzels Dokumentarfilm macht sich dabei aber nicht nur den Kunstgriff des Films im Film zueigen. Weitere filmische Mittel der Überwachung kommen zum Einsatz. So werden wir mit verpixelten Vogelperspektiven konfrontiert, die Aufnahmen aus Überwachungskameras ähneln; Leitungen werden visuell und akustisch angezapft. Thema des Film ist eben auch: der Film als Medium. Wie kann er zur Überwachung eingesetzt werden? Verletzt er die Privatsphäre? Sind wir bereit, Sicherheit gegen Freiheit einzutauschen?
So wie der Film Vorbereitung und Fall gegeneinander schneidet, ist er aber noch mehr, nämlich eine Fallstudie über die Ethik der Rechtssprechung. Wie kann man das Recht interpretieren? Wie SOLL man es interpretieren? Können Krieg und Gewaltausübungen überhaupt klar definiert werden? Muss das Völkerrecht den neuen Realitäten angepasst werden? Recht, so legt der Film nahe, ist immer auch eine Frage der Interpretation. Rede und Gegenrede treten notwendigerweise in Wettbewerb. Die „Kunst der Widerrede“, also die Kunst, mit der eine gegensätzliche Haltung deutlich gemacht wird, ist natürlich eine Frage des Könnens. Aber sie ist eben auch das schöpferische Gestalten mit den Mitteln der Sprache in Auseinandersetzung mit der Welt.
Inwieweit sich in der filmischen Dokumentation Fakt und Fiktion vermischen, beziehungsweise die Fiktion dem Fakt den Rang abzulaufen scheint, ist eine Frage, an der sich Kritiker schon geraume Zeit abarbeiten. Konsens scheint, dass die kreative Umsetzung von Wirklichkeit, wie sie die Dokumentation vornimmt, dem Verlangen des Publikums nach Authentizität und Faktizität, also Tatsächlichkeit, entspricht. Auch Liebheit und Wetzel spielen gekonnt mit dieser ureigenen Ästhetik des Dokumentarfilms, bei der die Fiktion authentisch wirken muss, um als Fakt durchzugehen, während das Fakt ästhetisiert wird, um argumentatorische Schlagkraft zu entfalten.
Dass die Verhandlung des feinen Grades zwischen Fakt und Fiktion eines der Hauptanliegen des Films ist, legt sein Ende nahe. Hier treffen die Studis mit Asaf Lubin zusammen, dem Autor des fiktiven Falles. Lubin zitiert ausgerechnet aus einem Roman von John le Carré, ehemaliger Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes, aber natürlich vor allem Autor von Spionage-Bestsellern. Er bedient sich also eines fiktiven Werkes, um an die angehenden VölkerrechtlerInnen zu appellieren, rechtliche Grauzonen zu überdenken, gar rechtliche Grenzen neu zu bestimmen. Dann bedankt er sich dafür, dass sie einen fiktiven Fall derart erfolgreich zum Leben erweckt haben. So streicht der Film die Fiktionalität, die ihm eben auch zugrunde liegt, noch einmal heraus.

Konstantin Grcic - Design is Work Post2PDF

Sehr lesenswerte Kritik von Laura Weißmüller in der Süddeutschen Zeitung:

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Zum Film LEBEN - GEBRAUCHSANLEITUNG Post2PDF

von Jörg Adolph & Ralf Bücheler

1989 hat Harun Farocki einen Film gedreht, der aus 32 unkommentierten Übungs-, Therapie- und Spielsituationen besteht: LEBEN - BRD. Ein ebenso verblüffendes wie elegant reduziertes Filmkonzept. Wir blicken auf ein Volk von Simulanten, das einen Testlauf durchs Leben absolviert. Eine Biografie in Orientierungsvorschlägen vom Kurs für Säuglingspflege bis zur Schulung für Lebensversicherungsvertreter. Zuerst fällt da die Faszination des Dokumentarfilmers am Rollenspiel auf, denn hier werden die Dinge des Lebens auf den Begriff und in einen dramaturgischen Ablauf gebracht. Farocki schrieb dazu: „Schon lange denke ich an Dokumentarfilme mit Darstellern, möchte ihnen aber nicht sagen, wie sie zu spielen hätten. Sie würden meine Intendanz oder ihr eigenes Darstellersein dokumentieren; hier dokumentieren sie den Weltentwurf der Militärs, Kirchen, Sozialämter, Versicherungen.“ Farocki nannte im Exposé (dem Text, um Finanzierung und Unterstützung für das Filmprojekt zu sichern) auch filmische Vorbilder und erinnerte an das Genre des Kompilationfilms: „Der Film THE ATOMIC CAFÉ montiert Lehrfilme aus den 50iger Jahren: wie man sich gegen die A-Bombe schützt und das Leben mit der Bombe einübt. Ich will einen Film machen, der aus etwa 20 Szenen montiert ist, Szenen, in denen gelehrt wird, wie man heute hier leben soll und mit denen dieses Leben beschworen werden soll. Michael Klier mit DER RIESE zeigte die BRD im Überwachungsbild und ich will die BRD im Bild der Einübung und Beschwörung zeigen.“ (Harun Farocki, Exposé zu WIE SOLL MAN LEBEN IN DER BRD)

Beim Wiedersehen von LEBEN - BRD fiel uns der schräge Humor dieses einzigartigen Films auf und wie erstaunlich fremd die BRD von 1989 wirkt. Wir kamen zu dem Schluss, dass der Film nach einem „Update“ verlangt, denn ungeheuer viel hat sich im Geschäftsbereich Coaching, z.B. unter dem Begriff „lebenslanges Lernen“ oder auch in der Entspannungsindustrie getan. Gut 25 Jahre später begeben wir uns also auf eine Reise durch Deutschland und untersuchen aktuelle Lebensentwürfe nach Harun Farockis Spielregeln: Wir filmen bei der gleichen Hebammen-Ausbildung in Neukölln und drehen - wie er - einen Sceno-Test. Wir sind bei Polizei- und Bundeswehr-Übungen, Wahrnehmungstests und einer Striptease-Schulung dabei. Wir erkunden aber auch Kurs-Neuland, sehen ein verändertes Lebensdesign, andere Identitätsprojekte, neue Lebensreligionen. Unser Film wird kleinteiliger, es gibt fast doppelt so viele Seminare und Szenen. Während Farockis Film kaum ernsthafte Sachinformationen enthält, stellt sich bei uns mitunter ein Ratgeber- und Mitmach-Effekt ein. Es gibt forcierte Performances schon beim Erste-Hilfe-Kurs, angewandte Lerntheorie beim Schulwegtraining, einiges an „Kompetenztransport“ und ein gehöriges Maß an „Achtsamkeit“. Es fallen Sätze wie: „Da haben wir wieder etwas über unser Gehirn gelernt“ , „Ja, man muss auch ein bisschen an sich arbeiten im Leben“ oder „Du hast jetzt Werkzeuge, mit denen Du arbeiten kannst“. Die Beratungsmentalität hat alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdrungen. Wir sind umzingelt von Gebrauchsanleitungen und wissen immer weniger, wie das gehen soll - Leben.

In unserer westlichen Kultur gilt die Maxime, dass vom Tag der Geburt an jeder kontinuierlich an sich arbeiten, sich entwickeln, sich verbessern soll. Jeder ist ein Unternehmer seiner Selbst: Du musst Dein Leben ändern, positiv denken, fit bleiben und Dein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Was auf den ersten Blick wie eine private Entscheidung für das eigene Wohlergehen wirkt, dient längst dazu, den persönlichen Marktwert zu steigern. Forcierte Selbstsorge beschleunigt die Entsolidarisierung der Gesellschaft und bildet den Motor für das kapitalistische Wachstumsdogma. Wenn jeder für sich selbst verantwortlich ist, für seinen Erfolg oder Misserfolg, für Glück oder Unglück, dann gerät Selbstoptimierung zur Selbstausbeutung. Wir sind das Produkt geworden. Harun Farocki sah vor 25 Jahren diese gesellschaftliche Entwicklung und nahm konsequent den Dauer-Testbetrieb, den unser Leben darstellt, in den Blick: „Überall nimmt die Unanschaulichkeit der Lebens- und Arbeitsvorgänge zu, zugleich werden immer mehr Spiele gespielt, die offenbaren sollen, was in den Menschen verborgen liegt. Immer ungewisser die Regeln, nach denen zu leben sei, und immer mehr Spiele in denen das Leben wie ein Sport trainiert wird.“

So dokumentiert LEBEN - GEBRAUCHSANLEITUNG ein kulturelles Phänomen: das zeitgenössische Selbstverwirklichungsnarrativ und seine Praktiken. Die kann man je nach Geschmack „Lebenskünste“, „Technologien des Selbst“ oder „Psychopolitik“ nennen. Zugleich liegen bei dieser filmischen Versuchsanordnung die Bestandteile des Lebens wie in einem Baukasten hübsch nebeneinander, als ob sie nur darauf warten, neu kombiniert und bespielt zu werden: Könnte unser Leben - seine Elemente, Konstruktionen, Sinnmöglichkeiten - nicht auch ganz anders aussehen?

“Diese Aufrichtigkeit vermisse ich hierzulande manchmal” Post2PDF

“Interview mit Filmemacher Ralf Bücheler von MISSION CONTROL TEXAS

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in diesem Rahmen einen Dokumentarfilm über texanische Atheisten zu machen?

Ich hatte eine wirklich lange Pechsträhne, bevor ich auf die Atheisten stieß. Ich habe sechs oder sieben Projekte anrecherchiert und teilweise auch angedreht, doch alle platzten aus den verschiedensten Gründen. Filmemacherpech eben. Und gerade als ich keine Lust mehr zum Suchen hatte, stieß mein Kollege Jörg Adolph in der “Süddeutschen” auf einen kurzen Artikel über “The Atheist Experience” - er wies mich darauf hin und sagte: Das ist doch was für Dich. Zuerst war ich skeptisch, aber dann habe ich mir die Show im Internet angesehen - und ein paar Wochen später reiste ich zur Recherche nach Austin.
Bei dem Thema kam ganz viel zusammen, was mich ansprach: Die Diskussionen in der Show - und auch die Glaubensausübung in Texas - sind sehr performativ. Außerdem ermöglicht die Auseinandersetzung zwischen Gläubigen und Atheisten einen Blick auf die “culture wars” in den USA wie durchs Brennglas. Und “The Atheist Experience” ist ein schöner Ausdruck der angelsächsischen Debattenkultur, die ich schon lange sehr bewundere.
In der Anfangsphase habe ich ganz radikal gedacht und wollte im Film das Fernsehstudio der Atheisten nie verlassen - ich wollte es wie eine Raumstation behandeln. Am Ende haben wir doch anders entschieden, weil die erste Idee uns keinen Blick in die „Lebenswelt Texas“ erlaubt hätte – und ohne den versteht man den Furor der Atheisten nicht.

Wie haben Sie Zugang zu den Machern von “The Atheist Experience” bekommen?

Ich habe dem Producer der Show - Frank, der auch im Film vorkommt - eine E-Mail geschrieben. Es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis ich eine Antwort bekam; das lag daran, dass sich die Atheisten erst untereinander abstimmen mussten, ob sie ein Filmteam für längere Zeit ins Studio lassen wollen. Ich musste eine Projektskizze rüberschicken und meine vorherigen Filme vorstellen. Das fiel mir nicht so leicht, denn ich habe in den letzten Jahren an zwei Filmen mitgearbeitet, die sich mit den Oberammergauer Passionsspielen beschäftigen - das ist nicht gerade ideal, um sich bei Atheisten zu “bewerben”. Am Ende haben sie sich dann aber doch einstimmig für das Projekt entschieden - und danach gab es nie mehr Fragen oder Zweifel von ihrer Seite.

Sie haben auch in zahlreichen christlichen Kirchen und Gemeinden gedreht. Nach welchen welchen Kriterien haben Sie diese ausgewählt und wie sind Sie dort aufgenommen worden?

Wir haben insgesamt neun Shows von “The Atheist Experience” aus der Backstage-Perspektive gedreht - und die Show findet nur sonntags statt. Das bedeutet: Wir hatten zwischen den Shows immer sechs Tage Zeit, uns in Texas herumzutreiben und nach Szenen für “die andere Seite” zu suchen. Und wenn man einmal die “Suchbrille” aufhat, dann wird einem klar: Glaube wird in Texas, vor allem auf dem Land, überall und sehr sichtbar gelebt.
Auf viele Kirchen und Veranstaltungen sind wir durch Zufall oder durch Hinweise von Leuten gestoßen, mit denen wir ins Gespräch gekommen sind. Etwa die Hälfte der christlichen Orte, Gruppen und Personen waren aber auch wirklich harte Recherchearbeit. Ich habe vor den Drehs, aber auch währenddessen, viel Zeit im Internet verbracht, um etwa das richtige Rodeo zum Drehen zu finden, oder um diesen oder jenen Fundamentalisten zu überzeugen, dass wir drehen dürfen. Eine Riesenhilfe war das “Texas Freedom Network”, ein liberaler Think-Tank in Austin, wo man mich immer wieder großzügig mit Informationen versorgt hat.
Wenn wir dann jemand gefunden hatten, war der Zugang meistens überraschend einfach. Wir wurden eigentlich immer freundlich aufgenommen und hatten in den wenigsten Fällen Probleme, eine Drehgenehmigung zu bekommen, vor allem in den Kirchen. Das hängt auch damit zusammen, dass es da diesen Stolz gibt, herzuzeigen, was man glaubt und richtig findet. So habe ich die USA und vor allem Texas erlebt, und ich bewundere diese Aufrichtigkeit - die ich hierzulande manchmal vermisse; das macht uns Dokumentarfilmern die Arbeit schwer.

Welche Überlegungen stehen hinter Ihrem filmischen Konzept, auf Interviews zu verzichten und auf reine Beobachtung zu setzen?

Ich beobachte selbst gerne - und ich möchte die Zuschauer möglichst unmittelbar an der vor-filmischen Situation teilhaben lassen. Das ist wahrhaftiger und interessanter, als den Leuten mit Interviews und Kommentar erklären zu wollen, wie sie eine Situation zu lesen haben. Die Zuschauer können selber sehen, hören und verstehen.
Mir ist klar, dass reine Beobachtung und der Verzicht auf Interviews oder Kommentar nichts mit Objektivität zu tun haben - das zu glauben wäre naiv, denn ich schaffe ja eine neue Wirklichkeit durch Auswahl und Montage. Aber es gibt verschiedene Grade der Wahrhaftigkeit - je nachdem, welche filmischen Mittel ich wähle: Je weniger ich mich stilistisch aus dem herkömmlichen “Doku-Baukasten” bediene, und je mehr ich auf die Erzählung in der Montage vertraue, desto wahrhaftiger wird der Film. Außerdem geht es auch um Eleganz: Wenn eine Situation gut gefilmt und montiert wurde, dann sind keine weiteren Zutaten mehr notwendig.
Meine Protagonisten reden ja auch die ganze Zeit miteinander über sich, ihren Glauben und ihre Motivation - oder sie präsentieren stolz Performances, die sie sich so ausgedacht haben. Es macht keinen Sinn, da noch eine weitere Erklärebene drüberzulegen. Außerdem waren die Dokumentarfilme, die mich am meisten beeindruckt haben, Direct-Cinema-Filme.

Wie waren die Reaktionen des Publikums bei den Festivalvorführungen des Films?

Auf diese Frage eine kurze Antwort zu finden ist nicht leicht, denn die Publikumsgespräche nach dem Film sind immer recht ausführlich. Die Menschen sehen eine Lebenswelt (USA), die sie aus den Medien und vielfach aus der eigenen Erfahrung zu kennen glauben - aber sie erleben einen für uns Europäer fremden Aspekt dieser Lebenswelt: Hierzulande ist die Auseinandersetzung über den Glauben einfach nicht so vehement. Das wirft eine Menge inhaltliche Fragen auf.
Bisher hatten wir eigentlich durchwegs positive Reaktionen - das hat mich überrascht, denn ich dachte, dass der Film eigentlich “auseinandersetzunsfreudige” Gläubige anziehen müsste - das ist aber bisher nicht geschehen. Der Atheismus gehört in unserer Gesellschaft wohl bereits zum Mainstream.
Die Fragen stellte Katya Mader.

Ein Plädoyer für den Dokumentarfilm im Fernsehen Post2PDF

Rede anlässlich der Verleihung des Eine-Welt-Filmpreises NRW in Köln
Von Sabine Rollberg

Am 11. September 2015 wurde im Kölner Forum Ludwig der Eine-Welt-Filmpreis NRW verliehen, den die Landesregierung Nordrhein-Westfalen jährlich vergibt. An diesem Abend wurden vier Dokumentarfilmer für ihre Arbeiten ausgezeichnet (siehe unten). Die Keynote bei der Veranstaltung hielt Sabine Rollberg in ihrer Funktion als Professorin an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM). Dabei hielt sie ein nachdrückliches Plädoyer für die Pflege des Dokumentarfilms im Fernsehen. Die Medienkorrespondenz dokumentiert im Folgenden die Rede im kompletten Wortlaut. • MK

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Vielleicht ist das heutige Datum für die Ausrichtung dieser Preisverleihung ja reiner Zufall, vielleicht auch nicht, denn der 11. September war ein Wendepunkt unserer Gefühle und unseres Denkens. Der heutige Tag vor 14 Jahren hat uns manche Unbeschwertheit genommen, unsere Offenheit gegenüber dem Unbekannten und Fremden eingeschränkt, unsere Reisen verkompliziert, viele Menschen hier verstehen nicht, was Menschen dort zu Selbstmordattentätern macht, und die meisten reagieren bei Nichtverstehen mit Ablehnung. Vielleicht ist es auch nicht zu verstehen, wieso Menschen zu so etwas fähig sind; mein Punkt ist, eine Lanze zu brechen für die Haltung des Verstehenwollens, für die Neugierde dem Fremden, Unbekannten gegenüber und für das Anliegen, Brücken des Verstehens immer wieder neu zu schlagen. Diese Brücken des gegenseitigen Verstehens, der Empathie, können Dokumentarfilme bauen. Ich werde darauf zurückkommen, denn das mir heute gestellte Thema ist der Dokumentarfilm.

Zuerst komme ich aber noch einmal auf das heutige Datum zurück. Ein 11. September war es auch, heute vor 41 Jahren, 1973, als der chilenische Präsident Salvador Allende gestürzt und in den Selbstmord getrieben wurde. Damals, so mein Eindruck, halfen die Medien der hiesigen Öffentlichkeit zu verstehen, was in Lateinamerika passierte, zu begreifen, warum die Realisierung einer Gesellschaft zwischen Kommunismus und Kapitalismus zerstört wurde. Eine Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität ging durch Europa, die Herzen waren offen für die vielen Flüchtlinge erst aus Chile, dann aus Argentinien und Uruguay, später aus den Ländern Mittelamerikas. Das damalige Engagement war durch die Haltung der Medien beflügelt. Es ist eine verbreitete Meinung, dass der heutigen Welle von Hilfsbereitschaft die Fernsehsender nur hinterhereilen.

Neue Gedanken, neue Ideen

Vielleicht sehe ich das mit einem verklärenden Blick, weil ich damals selbst jünger und engagierter war, es war auch eine Zeit, in der die Medienlandschaft anders war. Den Vorwurf der Nostalgie riskierend, erinnere ich an die 1970er und 1980er Jahre, denn vielleicht ist manche Idee von damals für die Reformbegeisterung, die gerade angesichts digitaler Zukunftsszenarien durch manchen öffentlich-rechtlichen Sender geht, doch eine Anregung für heute. Denn da gab es zur Hauptsendezeit um 20.15 Uhr jeden Sonntag eine Sendung – im WDR Fernsehen das „Auslandsstudio“ – mit dem außenpolitischen Thema der Woche, 45 Minuten lang, dabei viele entwicklungspolitische Fragen. Einmal pro Woche gab es den „Auslandsreporter“ und einmal im Monat „Treffpunkt Dritte Welt“, eine Auslandsshow, in der ein entwicklungspolitisches Thema öffentlich mit Experten diskutiert wurde, eingerahmt von dazu passender Musik und Literatur. Eine langlebige Reihe in der ARD hieß: „Zweimal Gambia“, „Zweimal Kenia“, „Zweimal Tansania“ usw.: Ein Reporter von hier und ein Regisseur aus Afrika versuchten das jeweilige Land filmisch einzufangen. Und für Heranwachsende wurde der „Kinderweltspiegel“ mit internationalen Themen produziert. All das klingt in unseren Ohren heute erstaunlich, angesichts der heutigen Fokussierung des WDR Fernsehens auf Nordrhein-Westfalen. Was hat sich geändert und warum?

Wenn ich heute mit Kollegen mit Programmverantwortung spreche, sagen sie: Wir, also meine Generation von Redakteuren, hätten damals vieles falsch gemacht, wir hätten über die Köpfe der Menschen hinweg gesendet, wir hätten unsere eigenen Interessen verfolgt und hätten nicht vor Augen gehabt, was die Zuschauer interessiert. Es sei nachgewiesen, dass sich die Menschen in Nordrhein-Westfalen in erster Linie für die Dinge im konkreten Umfeld ihrer Region interessierten, und außerdem sei das Interesse für Politik gering. Das wird mit Quoten und Untersuchungen über Zuschauer- und Zuhörerverhalten belegt. Man, vor allem frau, wolle abschalten beim Einschalten. Und die öffentlich-rechtlichen Sender hätten die Verpflichtung, diesem Wunsch des Publikums nachzukommen.

Gleichzeitig zu diesem Trend hin zu Regionalem und Unterhaltsamerem hat sich unsere Wirtschaft jedoch globalisiert, Arbeitsplätze und Produktionsstätten werden ins Ausland transferiert, Bundeskanzlerin Merkel ist wahrscheinlich vertrauter mit griechischen Wirtschaftsdaten als mit den eigenen, chinesische Börsenkurse gehören zur Lektüre im Sekundentakt der hiesigen Exportindustrie. Inzwischen kann auch niemand mehr sagen, dass der Krieg in Syrien oder der Konflikt in Afghanistan nichts mit uns zu tun hat, genauso ist es mit dem Ölabbau in Ecuador und und und… Auch in ihrem Privatleben wenden sich die Menschen der Welt zu. Im Sommer 2015 hat die Zahl der Fernreisen um weitere fünf Prozent zugenommen.

Auf einer Tagung des ‘Arbeitskreises öffentlich-rechtlicher Rundfunk’ zusammen mit dem Grimme-Institut und dem WDR-Rundfunkrat sagte der Verfassungsrechtler Professor Helge Rossen-Stadtfeld von der Bundeswehrhochschule in München, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seiner eigentlichen Aufgabe nicht mehr nachkomme, wenn er fortfahre, bestehende Meinungen zu zementieren. Nach seinen Untersuchungen täten dies die meisten Programme, vor allem die zahlreichen Talkshows. Der Auftrag sei jedoch, um Menschen demokratiefähig zu machen, sie mit neuen Gedanken, neuen Ideen, anderen Sichtweisen zu konfrontieren und somit zur Meinungsbildung beizutragen, also nicht immer nur bestehende Meinungen zu bekräftigen, was permanent geschehe. Innerhalb der Rundfunkanstalten heißt das Credo jedoch seit einigen Jahren: Wir müssen die Zuschauer abholen. Früher lautete es: Wir müssen die Zuschauer in Welten entführen, die er noch nicht kennt. Ein Interview mit dem Gelehrten Navid Kermani in der „Zeit“ vom 20. August erinnerte mich daran, denn der Kölner Schriftsteller sagte: „Den Menschen dort abholen, wo er ist […] – ein grauslicher, anbiedernder Gedanke, der zu einer ästhetischen Verarmung […] sondergleichen geführt hat.“ Und er wünscht sich, herausgefordert, überwältigt, fasziniert und nicht eben immer nur bestätigt zu werden.

Wie die letzten Indianer Amerikas

Als Argument, warum das Programm so ist, wie es ist, wird gesagt, die Medienlandschaft habe sich geändert. Doch es ist nicht nur die Konkurrenz der privaten Sender, es ist nicht der Druck der Politik, die angeblich das Erreichen eines Quotenziels fordern, um relevant zu bleiben. Meine Vermutung ist, dass viele Medienmacher die Liebe zu den Inhalten der Liebe zu den Quoten und zum Sparen geopfert haben. Diese Haltung und Begeisterung für die Themen, für Filme und ihre Autoren ist in meiner Wahrnehmung in den Sendern und Redaktionen sogar verpönt, Engagement macht verdächtig. Der Mangel daran ist für mich ein Symptom der Verarmung des Systems. Opfer sind die Filmemacher, unter anderem die, die wir hier und heute auszeichnen. Sie brennen für ihre Geschichten. Nur so kann man durchhalten, Jahre an einem Thema zu arbeiten, Durst- und Hungerstrecken, Heimatlosigkeit und Asyl zu ertragen.

Schon Dokumentarfilmer, die sich mit Themen aus unserer Region oder mit deutschen Themen befassen, haben es schwer. Die AG Dok, die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, hat veröffentlicht, dass zahlreiche Filmemacher unter Hartz-IV-Bedingungen leben müssen. Viel schwerer ist es für die, die sich fernen, fremden Ländern widmen, die Unterprivilegierten eine Stimme geben, mit Geduld und Langmut beobachten dort, wo Journalisten schon lange wieder abgezogen sind, als Anwälte gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt.

Hazam Alhamwi, der heute ausgezeichnet wird, hat wegen seines Films seine Heimat, seine Familie verlassen müssen; er kann ihnen berichten, wie er die Situation nach seiner Ankunft in Berlin erlebt hat – der syrische Krieg war für ihn vorbei, aber ein anderer ebenfalls gnadenloser Kampf hatte begonnen.

Der Münchner Dokumentarfilmmacher Thomas Riedelsheimer schrieb: „Ich gehe soweit zu behaupten, dass uns die Gesellschaft brauchen muss, wie sie Künstler braucht. Uns Dokumentarfilmer, die sich trauen, unsicher zu sein, zu suchen, zu zweifeln, zu provozieren. Uns, die wir anderen wirklich begegnen wollen. Die sich die Suche nach ihrem eigenen Menschsein nicht leicht machen und die dafür bis an die Grenzen der Selbstausbeutung gehen. Ökonomisch, seelisch und körperlich. Es sind individuelle Wege, viele Schattierungen, die sich nicht leicht in Programmzeiten und Sendeschemata einfügen und die aus dem Fernsehalltag verdrängt wurden, wie die letzten Indianer Amerikas.“

Diesen Beruf des Filmemachers kann sich offenbar nur leisten, wer viel geerbt oder einen Lehrauftrag an einer Filmschule hat. Dass Filmemacher jammern, wenn ihre Fleischtöpfe entfallen, ist natürlich, es geht um ihre eigene Zunft. Es geht aber auch um uns. Vermisst der Zuschauer diesen Wegfall? Vermisst er Filme, die bewirkt haben, dass durch eine Vorführung vor der UN-Vollversammlung über 100 Länder sich dem internationalen Verbot von Kindersoldaten angeschlossen haben? „Lost Children“ von Ali Samadi und Oliver Stolz hat gezeigt, welche Schwierigkeiten junge Menschen haben, die aus den Klauen des ugandischen Söldnerführers Joseph Kony entkommen konnten, sich wieder in ihre Familien zu integrieren.

„Darwin’s Nightmare“ von Hubert Sauper hat einen Verbraucherboykott von Viktoriabarsch in Frankreich, Italien und Dänemark ausgelöst. Die Prozesse gegen die Macht der Fischimport-Mafia, die sich angesichts des Erfolgs des Films – er wurde für den Oscar-nominiert – juristisch gegen ihn wandte, musste der Autor jedoch alleine durchstehen. Die Sender, die sich mit seinen Preisen schmückten, standen dem Filmemacher bei den juristischen Auseinandersetzungen nicht zur Seite. Er hat dennoch vor Gericht gewonnen. Dokumentarfilme zu machen, ist ein Beruf, bei dem nur der Ruhm, aber selten das Risiko geteilt wird.

Schranken durchbrechen

Werden die Zuschauer solche Filme vermissen, wenn sie nicht mehr auf Arte oder andern Sendern laufen? Wenn wir von einem Dokumentarfilm berührt werden, dann sind wir nicht nur informiert, dann sind wir verändert. Was verliert eine Gesellschaft, die nicht mehr erfährt, wie der Regenwald im Yasuni-Nationalpark verschwindet oder die Tierwelt auf den Galapagos-Inseln vertrieben wird, oder der nicht mehr erleben darf, dass Politiker auch ganz anders sein können, indem sie dem uruguayischen Präsidenten Pepe Mujica bei der Arbeit zuschauen? Ein Präsident, der drei Viertel seines Gehalts in soziale Projekte gibt, nicht weil der ehemalige Tupamaro es nicht für sich bräuchte, sondern weil das seine Haltung ist. In Dokumentarfilmen geht es um Haltung und um Wahrhaftigkeit. Und beides braucht unsere Gesellschaft wie die Luft zum Atmen. Eine Gesellschaft, die sich rasant verändert und die von Bildern aus dem Netz überflutet wird, braucht Menschen, die Bilder sammeln und einordnen und aus der Unübersichtlichkeit der Welt einen Weg weisen. Sie wollen nicht belehren, sondern zeigen, sie treten nicht als Vor-, sondern als Querdenker auf, die uns Impulse, Denkanstöße und Orientierungshilfe geben. Sie holen den Zuschauer nicht ab, sie bringen ihn wohin, nämlich in neue Welten und Erfahrungsbereiche, sie öffnen Horizonte. Diese Themen sind nicht weit weg, sie betreffen uns!

Natürlich leugnet niemand die großen Herausforderungen und Probleme, mit denen das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland heute konfrontiert ist. Stagnierende Einnahmen, hohe Kosten für die Digitalisierung, Überalterung des Publikums, tiefgreifende Umstrukturierungsprozesse und erdrückende Pensionslasten. Da ist schmerzhaftes Sparen angesagt. Eine sehr gefährliche Situation, besonders wenn sie dazu führen würde, dass das Programm weiter ausblutet. Und blutleer wird es, wenn es noch weniger Dokumentarfilme gibt.

Dabei könnte der Dokumentarfilm den öffentlich-rechtlichen Sendern in dieser schwierigen Situation helfen! Es gibt so viele gute Filme, die im Moment mit Idealismus und Selbstausbeutung in Eigeninitiative finanziert werden, dass leicht viele Programmfelder gefüllt werden könnten, und zwar viel preiswerter als mit jeder Serie. Claas Danielsen, der bisherige Leiter des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, hat ausgerechnet: „Die Kosten nur einer Folge einer 45-minütigen wöchentlichen fiktionalen Serie übersteigen das Jahresbudget eines wöchentlichen Dokumentarfilmplatzes deutlich. Drei Folgen so einer Serie dauern gut zwei Stunden und kosten schätzungsweise eine Million Euro. Nähme man diesen Betrag als Jahresbudget für einen Dok-Sendeplatz, entstünden 78 Stunden Programm für ein Millionenpublikum.“ Und dazu muss man die Wiederholungsmöglichkeiten und die lange Lebensdauer von Dokumentarfilmen addieren.

In diesem Sinne möchte ich nicht nur, wie schon gesagt, an die Liebe zu den Stoffen, vor allem den fernen, appellieren. Denn wir sind eine Welt. Der Dokumentarfilm soll nah an den Menschen und der Wirklichkeit sein. Viele Filmprojekte, die nicht in die Formatvorstellungen von Sendern mit ihren festgelegten Programmschemata passen, scheitern. Die meisten Fernsehmacher wollen immer dasselbe, von dem sie anhand der Quote wissen, dass es erfolgreich war – das wird reproduziert. Neues hat so wenig Chancen. Fernsehschaffende haben Angst und Angst erstickt Kreativität.

Man darf nicht an das Ergebnis denken, um ein Ergebnis zu erhalten. Wenn man danach sucht, blockiert man den kreativen Prozess. Es ist wichtig zu lernen, die Schranken, die uns umgeben, zu durchbrechen, zu lernen, uns von Hemmnissen zu befreien, die uns zurückhalten. So bauen wir die Brücken zu anderen Kulturen, erweitern Horizonte und öffnen die Herzen für die vielen Menschen, die nun zu uns strömen. Dies zu bewerkstelligen, halte ich für einen Kernauftrag öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Und ich weiß, dass die Preisträger sich mit und ohne Auftrag bereits darum verdient gemacht haben. Ihnen gilt mein Respekt, ihnen gelten meine Wünsche und meine Unterstützung, weiter durchzuhalten. •

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Die Preisträger des Eine-Welt-Film-Preises NRW 2015

• Der Eine-Welt-Filmpreis NRW wird von einer unabhängigen Jury im Rahmen des „Fernsehworkshops Entwicklungspolitik“ vergeben. Stifter des Preises ist das Ministerium für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen. Der Wettbewerb umfasst drei Auszeichnungen: den mit 5000 Euro dotierten ersten Preis, den mit 3000 Euro dotierten zweiten und den mit 1500 Euro dotierten dritten Preis. Mit dem Eine-Welt-Filmpreis NRW werden laut Statut die Arbeiten von Autorinnen und Autoren gewürdigt, deren Filme für Probleme in Ländern des Südens sensibilisieren, die aber auch Ansätze zur Veränderung aufzeigen und einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Beim Wettbewerb 2015 ging der erste Preis an Ascan Breuer (Buch/Regie) und Victor Jaschke (Ko-Regie/Kamera) für die Dokumentation „Jakarta Disorder“. Den zweiten Preis erhielt Hazem Alhamwi (Buch/Regie) für seinen Film „Aus meinem syrischen Zimmer“. Mit dem dritten Preis wurde Carl Gierstorfer für „AIDS – Erbe der Kolonialzeit“ ausgezeichnet.

aus Medienkorrespondenz vom 06.10.2015

Der Zündfunk Post2PDF

Interview mit Jörg Adolph und Gereon Wetzel über ihren Film “Zündfunk Radio Show”:

http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/zuendfunk-radio-show-interview100.html

“Jeder kann Dokumentarist werden” Post2PDF

Ein epd-Interview von Fritz Wolf mit “Hier und Heute”-Redaktionsleiter Maik Bialk

Frankfurt a.M. (epd). Die Reportagen “Hier und Heute unterwegs” laufen seit 35 Jahren am Vorabend im WDR. Die regionalen Reportagen und Dokumentationen, ein Ableger der Magazinsendung “Hier und Heute”, stehen nicht gerade im Blickfeld der Fernsehkritik und sind doch ein Stück interessanter Fernsehgeschichte. Am 1. Dezember sendete “Hier und Heute” den 5.000. Film. Seit Januar 2011 leitet Maik Bialk (38) die Redaktion von “Hier und Heute”. Er war zunächst freier Autor für Reportagen und Dokumentationen und absolvierte ab 2003 ein Regie-Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg. An der Akademie entstanden die Filme “Gysi und ich” und der Abschlussfilm “Die Maßnahme”, der 2009 mit dem Deutschen Nachwuchspreis “First Steps” ausgezeichnet wurde. Fritz Wolf sprach mit ihm über die Entwicklung des dokumentarischen Arbeitens.

epd: “Hier und Heute” hat am 1. Dezember die 5.000. Sendung ausgestrahlt. Ihr stellt einige Filme aus den letzten 35 Jahren ins Netz. Nach welchen Kriterien habt ihr ausgewählt?

Maik Bialk: Am Anfang stand die Frage, was man mit einem solchen Jubiläum anfängt. Dass es jetzt 5.000 Sendungen gibt, das bedeutet für den Zuschauer wenig. Das ist vor allem etwas für die Redaktion und für den Sender. Man kann zurückschauen und sich fragen, wie wir wurden, was wir sind. Eine klassische Jubiläumssendung, eine Nacht der Redaktion oder einen Zusammenschnitt - das haben wir als nicht zeitgemäß empfunden. Wir wollten aber aus der Geschichte etwas lernen. Also keine Leistungsschau präsentieren, sondern die Frage aufwerfen: wie sah Fernsehschaffen in diesen Jahren aus? Welche dokumentarischen Methoden gab es? Wie dokumentarisch war es überhaupt? Welche Haltung war spürbar? Welche Themen waren bedeutsam? Und das war tatsächlich erhellend.

Mir sind zwei Filme sehr aufgefallen, einer über die Wende in Leipzig von 1989 und ein Film über die Proteste gegen die Stilllegung des Kruppwerks in Duisburg-Rheinhausen von 1987. Das waren Filme, die sich direkt unter den Menschen bewegten. Wie sehen Sie das von heute aus?

Bialk: Tatsächlich hat mich das beeindruckt: die Filme sind sehr unmittelbar. Sie sind getragen von dem Wunsch, wirklich zu dokumentieren, was man in diesem Moment wahrnimmt. Das ist zwar stark über Interviews erzählt und weniger über Bilder, aber mich beeindruckt die Bereitschaft, sich auf Wirklichkeit einzulassen. In Leipzig fängt der Film ja geradezu damit an. Die Macher sagen, eigentlich wollten wir einen anderen Film machen, nun sind wir aber durch die Stadt gestromert und mussten feststellen, die Wirklichkeit ist eine andere. Also machen wir auch einen anderen Film.

Im Rheinhausen-Film sieht man zum Beispiel, dass die Protagonisten noch nicht so mediengeschult sind. Sie stehen oft ungeschickt im Bild herum. Es ist gerade lehrreich, weil es so ungeschickt ist.

Bialk: Man kann im Bogen dieser 35 Filme sehen, wie Menschen sich unterschiedlich zu Medien verhalten. In den ersten Filmen sieht man eine Mischung aus Ehrfurcht und völligem Unverständnis davon, wie Bilder wirken. Das gilt auch für Prominente. Zum Beispiel der Film über die Rockgruppe BAP in der DDR. Hier trifft man auf Wolfgang Niedecken, der das Gegenteil eines glatten Promis ist. Was er in diesem Film sagt, würde heute kein Popstar jemals sagen. Man sieht aber über die Jahre eben auch, wie die Menschen medienerfahren werden und man viel größere Schwierigkeiten bekommt, Wirklichkeit abzubilden.

In 35 Jahren stecken viele Traditionen. Woran lässt sich anknüpfen? Was ist eine Sackgasse? Was hat sich überlebt?

Bialk: Ich glaube, dass das Konzept des Reporters vor Ort tendenziell der Vergangenheit angehört. Auch mit Gesprächen und Interviews kommt man der Wirklichkeit nur noch begrenzt nahe. Heute sind sich alle über die Wirkungsweise etwa von Interviews bewusst. Für mich sind aus der Rückschau drei wichtige Aspekte hängen geblieben. Erstens kann man lernen, sich auf die Ambivalenz von Wirklichkeit stärker einzulassen, auf das, was man wirklich vorfindet. Wir haben da die Spontaneität ein Stück weit verlernt. Das zweite ist die Frage, wie man heute eigentlich Unmittelbarkeit erreichen und der Wirklichkeit deutlich näherkommen kann. Wir haben das in den letzten Jahren ästhetisch probiert, über wirkungsstarke Bilder. Inzwischen glaube ich, drittens, dass uns ein grundsätzlicher Umbruch bevorsteht. Dieser Umbruch kommt durch das Handy. Hier finde ich die Unmittelbarkeit wieder. Das Handy wird zum entscheidenden dokumentarischen Mittel. Das Neue ist ja, dass jeder zum Dokumentaristen werden kann. Viele haben sogar eine große Lust, das zu tun, auch wenn die Ergebnisse oft nur Nabelschau sind. Aber ich bin davon überzeugt, dass mit dem Handy eine andere Form des Erfassens von Wirklichkeit möglich wird. Damit wird sich auch die Rolle der Autoren verändern.

Wenn also nicht mehr der “Reporter vor Ort”, wer dann?

Bialk: Der Mensch selber. Ja. Ich sage das mit aller Vorsicht: der Mittler, der vor Ort geht und der die Bilder macht, der wird möglicherweise verschwinden.

Was wird dann aus dem Autor?

Bialk: Er tritt zurück in die Rolle des Gestalters. Vielleicht besser in die Rolle des Sammlers und Kurators.

Das hat aber das Potenzial einer großen Kränkung.

Bialk: Der Autor wird nicht verschwinden. Es braucht immer noch jemanden, der ein Projekt führt, der die Rolle des Dramaturgen einnimmt, der Bilder in Sinnzusammenhänge setzt. Das wird Exklusivwissen bleiben.

Und wer organisiert die Bilderproduktion?

Bialk: Das wird die Rolle der Redaktion werden.

Wie sieht das bei “Hier und Heute” praktisch aus?

Bialk: Wir sind bei den ersten Gehversuchen. Wir haben bisher zwei Reportagen produziert, die auf Netzmaterial basieren, teilweise auf Handybildern, teilweise auf Material, das wir im Netz gefunden haben. Im nächsten Jahr werden wir beginnen, Filme aus Handymaterial zu bauen. Dabei ist mir aber wichtig: es geht nicht um Einsparung. Es geht einzig und allein um die Frage, wie man heute der Wirklichkeit nahekommen kann.

Aber billigeres Produzieren ist doch mindestens ein Nebeneffekt?

Bialk: Ich sehe im Moment nicht, dass die Produktion günstiger wird, wenn man diese Arbeit ernst nimmt. Die Kosten verschieben sich hin auf die Bearbeitung. Erzählerische Qualität wird immer ihren Preis haben.

Haben Sie Vorbilder, nach denen Sie sich richten?

Bialk: Das Vorbild ist das Netz, sind die Streifzüge im Netz. Im Fernsehen sehe ich davon wenig, im deutschen Fernsehen so gut wie gar nichts, von ein paar ambitionierten Einzelprojekten abgesehen. Bei dem im Aktuellen verwendeten Handymaterial geht es in der Regel um Geschwindigkeit. Bilder eines Ereignisses werden schneller ausgestrahlt. Mir geht es vor allem um die Unmittelbarkeit und um die Annäherung an die Wirklichkeit. Das Handy ist da für mich eine mögliche Form, Web-Dokus eine andere. Aber es ist vor allem das Handy, das einen massiven Umbruch im dokumentarischen Schaffen auslösen wird.

Nun ist “Hier und Heute” auch ein eingeführtes Programm mit einem gelernten Publikum. Macht es Experimente mit? Welche Erfahrungen machen Sie?

Bialk: Das Publikum läuft jedenfalls nicht in Scharen weg. Auch bei den experimentelleren Projekten gab es eine immer noch nennenswerte Größe von Zuschauern. Im Schnitt verliert man vielleicht zwei Prozent Marktanteil. Aber in der Redaktion verbieten wir es uns zunehmend, auf die Quote zu gucken. Die Frage, ob etwas quantitativ erfolgreich ist, hilft uns an dieser Stelle nicht weiter. Natürlich wollen wir mit unseren Filmen erfolgreich sein. Wir wollen möglichst viele Menschen erreichen, dafür investieren wir Geld und Energie. Wir müssen jetzt aber bewusst aushalten, dass wir in eine Phase des Ausprobierens treten und auch Scheitern einkalkulieren. Wir müssen uns Zeit nehmen, Erzählweisen auszutesten, unabhängig davon, ob sie quantitativ erfolgreich sind oder nicht. Entscheidend ist, dass wir offen alles Mögliche ausprobieren. Wir machen das aber nicht blindlings, sondern versuchen, kontrolliert zu testen. Kann man einen Film ohne Kommentartext im Vorabendprogramm senden? Offenbar ja, die Reaktionen waren nicht heftig. Kann man einen Film senden, der nur mit Schwarz-Weiß-Bildern arbeitet? Kann man einen Film senden, der nur aus Handymaterial besteht? Wir hatten einen solchen Film zum Thema der schweren Unwetter zu Pfingsten und der war genauso erfolgreich wie andere Filme. Wir hatten Beschwerden erwartet, aber es kamen keine.

Den meisten war das in diesem Fall vertraut. Sie sind selbst an diesem Tag mit ihren Handys herumgerannt und haben die gestürzten Bäume gefilmt.

Bialk: Ich denke, dass die Menschen da draußen teilweise weiter sind als wir hier drin.

Wie ist das aber bei Themen, die nicht wie Unwetter über uns kommen, sondern die Sie organisieren, die Sie behandelt sehen wollen. Wie wollen Sie da vorgehen?

Bialk: Der erste Schritt war die Erkenntnis, dass es viel interessantes Material gibt, das nicht von Fernsehsendern produziert wurde. Und zwar nicht nur spektakuläre Bilder, sondern sehr subjektive und persönliche Bilder und Szenen. Das Dokumentieren findet statt, ohne dass wir es vorher anregen. Es gibt natürlich auch Projekte, wo man die Menschen auffordert, zu diesem oder jenem Thema etwas zu filmen und dann zur Verfügung zu stellen. Aber der Paradigmenwechsel besteht darin, dass das Dokumentieren ohnehin stattfindet. Es liegt an uns, ob wir es in einen filmischen Zusammenhang setzen. Das kratzt natürlich an unserer Rolle und wenn man den Gedanken zu Ende denkt, kann man sich fragen, inwieweit es uns dann immer noch braucht.

“Hier und Heute” sendet in zwei Formaten, wochentags gibt es 15-Minuten-Filme, am Samstag halbstündige Reportagen. Finden die Experimente vor allem im längeren Format statt?

Bialk: Das war in den letzten Jahren so. Aber das Denken in Sendeplätzen wird sich verändern und ich möchte es auch verändern. Wir müssen in Projekten denken und nicht von der Frage her, dass man einen Sendeplatz füllt. Auch die Profile von Sendeplätzen werden bereits in wenigen Jahren kaum eine Rolle mehr spielen. Die Zuschauer entscheiden selbst, was sie wann und in welchem Medium sehen. Für dokumentarische Arbeit ist das toll, wenn es keine Rolle mehr spielt, wann ein Film ausgestrahlt wird. Es hebt einen Wettbewerbsnachteil von Dokumentarfilmen weitgehend auf. Wir haben ja in den letzten zehn Jahren erlebt, dass sie tendenziell an den Rand und auf unattraktive Sendeplätze verdrängt wurden.

Wie steht der Sender zu diesen Plänen und Überlegungen? Fernsehsender sind ja per se keine innovativen Organisationen.

Bialk: Ich erfahre große Unterstützung dafür, etwas auszuprobieren. Das liegt wohl auch daran, dass im Moment niemand so recht weiß, wie die Zukunft aussieht und niemand so ganz genau bestimmen kann und will, was richtig und falsch ist. Ich nehme das als Ermutigung, so weiterzumachen.

Verändert sich mit solchen Experimenten nicht auch die Arbeit in der Redaktion, die ja in vorhandenen Strukturen arbeitet?

Bialk: Ich versuche, Strukturen so zu verändern, dass sie Veränderung ermöglichen. Ich habe das Modell einer Garage vor Augen, in der Produkte entwickelt werden.

In Garagen wurde die neue Computer- und Netzwelt entwickelt.

Bialk: Ja, in Garagen wurden Betriebssysteme entwickelt, wie Microsoft. Für uns bedeutet das: wir müssen starre Strukturen auflockern und beweglicher werden. Wir müssen die Fenster aufmachen und Frischluft in die Strukturen und in uns selbst lassen. Frischluft heißt: andere Ideen, andere Menschen, andere Sichtweisen. Wir müssen junge Nachwuchsautoren ins Haus holen, und zwar nicht, damit die lernen, wie es richtig geht, sondern damit wir lernen, wie sie Wirklichkeit erzählen wollen. Und wir müssen unsere Arbeitsweisen weg vom Sendeplatz lenken hin zu Projekten und dann schauen, welcher Sendeplatz dann richtig ist. Das bedeutet für mich das Bild der Garage. Man holt sich die Leute rein, mit denen man etwas entwickeln möchte. Autoren. Kameraleute, die nicht Kameraleute sind im klassischen Sinn, sondern drehende Autoren. Man muss anfangen, aus den streng definierten Gewerken heraustreten. Wir wollen vom Netz her denken, nicht vom Sendeplatz.

Die Redaktion produziert auch Web-Dokus. Warum?

Bialk: Wir haben gerade zusammen mit “WDR Weltweit” und unserem Programmbereich Internet eine große Web-Doku in Arbeit - da bestimmt nicht mehr der Autor, welchen Weg der Betrachter geht. Die Web-Doku heißt: Wowillstduhin.de. Der Gedanke ist einfach. Wir begleiten Bahnreisende durch ganz Europa, nehmen die Netzstruktur vom Eisenbahnnetz und lassen den Zuschauer seine Reisen selbstbestimmt gehen. Er kann Menschen nach Moskau folgen und wenn es ihn da nicht interessiert, dann eben nach Paris.

Die Web-Dokus kann man aber nur im Netz sehen?

Bialk: Das Projekt ist vom Netz her gedacht, es wird aber auch vier Fernsehfilme geben, zwei bei uns und zwei bei “WDR Weltweit”. Wir kooperieren dabei ganz bewusst mit einer anderen Redaktion. Einmal, weil so Ressourcen besser genutzt werden können. Die Projekte werden unweigerlich größer und Kooperationen sind nicht nur sinnvoll, sie sind unerlässlich, um gemeinsam Kraft und Geld investieren zu können. Es ist aber auch sinnvoll, vom Redaktionskonkurrenzdenken zum Kooperationsdenken zu kommen und sich mit unterschiedlichen Sichtweisen zu bereichern.

Die Formatvielfalt verlangt aber auch andere Dramaturgien. Es wird sehr viel dokumentarisches Material gebraucht - wie geht das?

Bialk: Wir haben in diesem Fall sogar zwei getrennte Autorenpaare, die einen für die Fernsehfilme, die anderen für die Web-Doku.

Die Redaktion produziert schließlich auch Multimedia-Reportagen - mit welchem Ziel?

Bialk: Wir machen das seit einem halben Jahr. Es sind etwa 15 solcher Reportagen entstanden. Wir verfolgen dabei zwei Ziele. Zum einen wollen wir wissen, wie wir Leute erreichen, die sich einen klassischen Langfilm nicht anschauen. Können wir ein Angebot machen, dass sie wenigstens partiell mit dokumentierter Wirklichkeit in Berührung kommen? Zum zweiten wollen wir uns Kompetenzen an Land ziehen und uns in Netzdramaturgien ausprobieren. Bei unseren ersten Multimedia-Reportagen haben wir versucht, Fernsehdramaturgien auf diese Reportageform zu übertragen und sind damit tendenziell gescheitert. Unsere Dramaturgien funktionieren da gar nicht. Wir wissen jetzt immer noch nicht genau, was die richtige Netzdramaturgie ist, aber wir probieren aus.

In einer Multimedia-Reportage kommen Grafiken dazu, Verlinkungen, die ganze Technik - das sieht nach mehr Aufwand aus als eine normale 15-Minuten-Reportage, bei der die Arbeitsroutinen schon eingespielt sind und bei der Zeit, Manpower und Kosten kalkulierbar sind.

Bialk: Alle diese Formen sind das Gegenteil von Routine und von schematischer Produktion. Wir haben da schon gewisse Probleme im Umfeld eines Fernsehsenders, der regelorientiert aufgestellt ist. Meine Aufgabe ist es, diese Projekte aufzustellen, Diskussionen zu führen, nach den adäquaten Produktionsmitteln zu suchen, zwischen den Produktionen des Hauses und den von außen kommenden Anforderungen zu vermitteln, den Honorarrahmen zu durchforsten, wie man das abrechnen kann, die Teams zusammenzustellen, die vielleicht nur für ein Projekt zusammenkommen und nicht im Regelbetrieb da sind. Das macht den größten Teil meiner Arbeitszeit aus.

Das ist viel Organisation, Bürokratie. Sie sind doch eigentlich Filmemacher?

Bialk: Ich habe mir das Ziel gesetzt, neue bessere Rahmenbedingungen fürs Filmemachen herzustellen. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass das Verhältnis von Dokumentarfilmproduzenten, Autoren und Fernsehsendern so bleibt wie in den letzten zehn Jahren, nämlich eher ein Verhältnis von Skepsis, Misstrauen und von nur partiellem Glück. Ich denke, dass man sich wechselseitig mehr zu sagen haben müsste.

Vermissen Sie nicht trotzdem etwas?

Bialk: Wenn man in seinem Leben einen Film gemacht hat, wird man eine Sehnsucht in sich tragen, so etwas wieder zu tun. Es ist ein ganz persönliches und intensives Erlebnis, durch dieses Brennglas Wirklichkeit wahrzunehmen. Deshalb drehen auch so viele Leute Dokumentarfilme. Reich wird man damit ja nicht und berühmt auch nicht. Meist macht man es für sich selbst. Aber leider hat die Art, in der in den letzten Jahren Filme gemacht wurden, viele unattraktive Nebeneffekte. Man muss so viel kämpfen, man ist häufig in einer schwierigen Position, man ist mit vielen Missverständnissen konfrontiert. Ich hab den Wunsch, das anders zu machen. Es kann aber sein, dass es mich in fünf Jahren wieder packt. Denn ich bin kein Strukturmensch. Ich bin weder Unternehmensoptimierer noch Controller noch Karrierist, das interessiert mich alles nicht. Mich interessiert, wie man es schafft, mit interessanten Leuten interessante Projekte auf die Beine zu stellen. Und das Fernsehen ist halt immer noch wichtig, ohne Fernsehen geht fast nichts, und ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn Dokumentarfilmer einen Bogen um die Sender machen. Der Effekt ist, dass man teilweise weniger Spaß hat. Oder sagen wir besser: anderen Spaß.

Sie gehen also den langen Marsch durch die Institutionen?

Bialk: Ich will das nicht zu hoch hängen. Wir sind nur eine ganz kleine Redaktion, eine Mini-Einheit, sicher nicht Maßstab für irgendetwas. Aber ich merke, dass wir interessante Produktionen zustandekriegen und dass wir mit interessanten Leuten arbeiten, die auf dem freien Markt ganz schwer einen Fuß auf den Boden bekommen, obwohl sie tolle Regisseure und tolle Menschen sind. Mit diesen Leuten arbeiten wir zusammen. Das macht Spaß und ist sinnvoll.

Aus epd medien Nr. 49 vom 5. Dezember 2014 sowie: http://www.wolfsiehtfern.de/2014/12/jeder-kann-dokumentarist-werden/

Fatima Abdollahyan & Ashraf El Sharkawy über Freedom Bus Post2PDF

Fatima Abdollahyan über ihren Film

Was schuldet man dem Heimatland seiner Eltern? Das ist eine universelle Frage. Ebenso wie die, was man bereit ist, dafür zu geben.
Als mir mein Protagonist Ashraf El Sharkawy in den Tagen des „Arabischen Frühlings“ erzählte, er sei total besessen von der Idee, jetzt „etwas Sinnvolles“ zu leisten, war ich sofort von seinem Enthusiasmus angesteckt.
Ich habe Ashraf lange vor unserer neunmonatigen Drehphase gekannt. Schon vor der Revolution hatten wir oft diskutiert, was es für uns bedeutet, in Deutschland und nicht in Ägypten bzw. im Iran zu leben. Der Iran ist das Heimatland meiner Eltern. Wie ich, ist Ashraf in Deutschland geboren, aufgewachsen und hier zur Schule und Uni gegangen. Aber hatten wir nicht vielleicht gerade deswegen eine besondere politische oder soziale Verantwortung? Ashraf lieferte mir die Antwort auf diese Frage im Februar 2011.
Während des „Arabischen Frühlings“ hatte ich wie viele andere die heimliche Hoffnung auf einen „Iranischen Frühling“. Daher konnte ich dieses Gefühl von Dringlichkeit, das Ashraf ohne Rücksicht auf Verluste nach Kairo zog, gut nachvollziehen.
Neben allem anderen steht Ashrafs Bestreben vor allem für eines: die existentielle Sehnsucht nach emotionaler Vollständigkeit. Dieses Bestreben überschreitet die Grenzen sozio-politischer Konzepte. Es ist so universell wie das Gefühl, das die ganze Welt im Frühling 2011 hatte: Hoffnung.

Heute ist der „Arabische Frühling“ längst vorüber. Die Medien sprechen jetzt von einem „Arabischen Herbst“, gar einem „Arabischen Winter“. Der ursprüngliche Enthusiasmus musste Enttäuschung  und Angst weichen. Die Enttäuschung über das Ergebnis der Wahlen in den verschiedenen arabischen Ländern. Und der Angst vor einer globalen Islamisierung, die nicht nur im westlichen Teil der Welt herrscht. Trotzdem, oder gerade deswegen braucht es Menschen, die an die Freiheit des Willens und an die Demokratie glauben und auch handeln – wie Ashraf.
Mehr als je zuvor müssen wir uns selbst immer wieder an ein paar grundlegende Wahrheiten erinnern: Politische Willensfreiheit ist eine Frage der Bildung, individueller Freiheit, Zivilgesellschaft – und Zeit.
Die Menschen der arabischen Welt, mit denen wir gehofft, geweint und mit denen wir uns vor zwei Jahren solidarisiert haben, sind immer noch die gleichen. Der Kampf um eine bessere Welt ist nicht zu Ende. Und wird es nie sein.
Ich hoffe, FREEDOM BUS trägt dazu bei, das nicht zu vergessen.

„Freedom Bus” – die Kampagne
Ashraf El Sharkawy beschreibt seine Kampagne:

Nach der Revolution in Ägypten gab es eine wahre politische Meinungsexplosion. Menschen quer durch alle Schichten hatten plötzlich das ungezügelte Bedürfnis, über Politik zu sprechen. Dieses Bedürfnis wollte ich auffangen und kanalisieren.
Die Idee des „Freedom Bus“ ist es, mit den Menschen über die Grundprinzipien der Demokratie in einen Dialog zu treten. Bis jetzt ist der „Freedom Bus“ sechs Monate quer durch die ägyptischen Provinzen gerollt. Das „Freedom Bus“-Team, das aus ca. 15 Leuten besteht, ist von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt gezogen. Wir haben unser Informationszelt immer mitten im Zentrum eines Ortes aufgeschlagen, zum Beispiel auf einem Marktplatz oder an einer belebten Straße. Wir zeigten Lehrfilme mit Unterhaltungscharakter, wir verteilten Informationsflyer, die zu bestimmten Themen wie „Gewaltenteilung“ oder „Wahlabläufe“ speziell von Künstlern entworfen wurden. Dabei war es mir besonders wichtig, dass das gesamte Material inhaltlich von Ägyptern konzipiert wurde.

Das Wichtigste am „Freedom Bus“ aber ist das persönliche Gespräch, das die freiwilligen Helfer entlang eines vorgegebenen Gesprächsleitfadens initiieren. In den sechs Monaten entstanden darüber rege Diskussionen, hitzige Debatten, aber auch misstrauische Anschuldigungen. Da unser oberstes Gebot lautet, unparteiisch zu bleiben und niemanden in eine bestimmte politische Richtung zu drängen, konnten wir trotzdem immer schnell das Vertrauen der Straße gewinnen.

Der Bus rollt seit 18 Monaten nicht mehr. Es ist uns untersagt worden. Seit 18 Monaten versuchen wir, alle behördlichen Genehmigungen zu erhalten, aber leider erfolglos. Das Budget, das uns für 2012 und 2013 zur Verfügung gestanden hätte, konnte daher nicht ausgezahlt werden. Ich hoffe, dass wir 2014 entweder mit dem Bus oder in einer anderen Konstellation unsere Arbeit fortsetzen können.

ZÜNDFUNK RADIO SHOW Autorenstatement Post2PDF

„If you´re listening to the radio - not your show - but most radio

they just play the same songs: they just play top-ten.

It´s a bit depressing really“

(Paul Weller in: Zündfunk Radio Show)

Zündfunk ist eine Oase, eine der besten Radioideen, die der Bayerische Rundfunk je gehabt hat. Selbst Paul Weller kann hier völlig undeprimiert zuhören. Hier wird der öffentlich-rechtliche Auftrag (Information, Bildung & Unterhaltung!) wirklich ernst genommen. Ab 1974 als „Jugendfunk“ und seit einigen Jahren als „Szene-Magazin“. Wenn es beim Zündfunk um Depression geht, dann aber richtig: „Die Privatisierung der Depression. Mark Fisher, Hauntology und der kapitalistische Realismus“, 60minütige Sendung von Florian Fricke. Irre, das wäre im dokumentarischen Fernsehen schon lange nicht mehr denkbar. Das muss man im Podcast zweimal hintereinander hören und danach gleich zur Buchhandlung gehen und vertiefen. Mit der Musik ist es genau so. Musik ist hier Inhalt und hat Geschichte. Popmusik abseits des Mainstreams wird als eine ernste Sache verhandelt, ist der lebensrettende Soundtrack für eine zerbrechliche Jugend oder auch Guide durch die Midlife-Crisis. „Wir spielen manchmal Sachen, da schnallst Du ab“, sagt Zündfunk-Moderator Achim Sechzig Bogdahn. So soll es sein. Und natürlich gibt es eine Sendung in der die aktuellen Album-Charts u.a. vom Suhrkamp-Autor Thomas Meinecke auseinander genommen werden. Zündfunk ist immer überraschendes Radio, mit eigenen Zugängen und eigener Haltung. Neben dem wochentäglichen Magazin auf Bayern 2 (eine Stunde ab 19.00 Uhr) gibt es zahlreiche weitere Sendungen der Zündfunkredaktion: Nachtmix, Nachtsession, Generator, Langstrecke, City of Pop… Es ist schwer, im Zündfunk-Universum nicht die Orientierung zu verlieren. Aber auch das ist ja typisch Zündfunk: „Man muss auch mal kryptisch sein dürfen.“

Radio war mal eine große Wundertüte. Daran erinnert der leicht nostalgische Dokumentarfilm „La Maison de la Radio“ von Nicolas Philibert. Dieser Film von 2012 ist unser Vorbild: Philibert zog mit der Kamera ein halbes Jahr durch die endlosen Gänge im runden Haus von Radio France an den Ufern der Seine. Er filmte Menschen, die sich mit Hingabe und Detailversessenheit ihrer Arbeit widmen. „Best practice“ erfahrbar machen, darin war der Dokumentarfilm schon immer besonders effektiv - und in der geduldigen Darstellung von Institutionen. In „La Maison de la Radio“ entsteht ein eigenes Universum aus Sendungen, Konzerten, Lesungen, Talks und Aufnahmen vor Ort. Die Magie des Radios, ein bilderloses Medium, das gerade weil es „blind“ ist, den Filmemacher besonders herausfordert. Nicolas Philibert bezeichnet sich zudem als eine Art Anti-Michael Moore: Statt wie dieser dem Zuschauer immer genau zu sagen, was er denken soll, zeigt Philibert etwas, das einen zum Nachdenken bringt - Also ganz „zündfunkisch“ gedacht.

Wie auch in unseren anderen Arbeiten, haben wir diesen filmischen Ansatz weiter verfolgt und auf Interviews oder Kommentar verzichtet. Aber wir wollten nicht allein Performances und Programmperlen aneinander reihen, sondern auch die redaktionelle Arbeit, den besonderen Zündfunk-Geist in den Blick nehmen. Die tägliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Programm, die Selbstdefinition der Macher und die Abgrenzung zu anderen Radioprogrammen. Wir haben Gespräche gefilmt, in denen die Unsicherheit angesichts des rasanten Medienwandels thematisiert wird, Diskussion über die geringen Honorare im Medienprekariat und wie man junge, gute Autoren dennoch an den Zündfunk binden kann. Was ist der ideale Zündfunk, was sind seine Elemente, seine Struktur?

Als wir unser Filmprojekt in der großen Zündfunk-Redaktionsbesprechung an einem Freitag vorstellten, hockten wir auf umgedrehten Wasserkästen und blickten in 40 interessierte, aber auch herausfordernde Gesichter von Menschen, die einfach kreuz und quer im Raum verteilt saßen. Das hat uns sehr gefallen: zu Besuch in einer diskussionsfreudigen WG mit Sendeerlaubnis, Vision und Team-Spirit im 16ten Stock des Funkhauses hinterm Münchner Hauptbahnhof. „Hier hat das Funken noch Verstand“ schrieb Ulrich Stock in seinem programmatischen Artikel „Rettet das Radio“ (Die Zeit vom 11.05.2007), der auch eine wichtige Inspirationsquelle für unseren Film ist: „Der Zündfunk verbindet Nähe zum Geschehen mit Professionalität. (…) Und dies nicht aus Gutmenschentum oder Kalkül, sondern aus Engagement, Begeisterung und nüchternem Urteil. So vereint der Zündfunk Tradition und Fortschritt, Beharrungsvermögen und schnelle Reaktion. Hier gab´s die erste Technosendung bundesweit, den ersten Housemix. Für das Ansehen des Bayerischen Rundfunks unter Musikfreunden ist die Sendung unbezahlbar - anderswo wäre sie längst abgeschafft.“

ZÜNDFUNK RADIO SHOW ist  eine filmische Liebeserklärung an eine immer wieder spannende Radiosendung und das Porträt einer Gruppe von engagierten Journalisten mit guten Musikgeschmack. Oder: Arbeit am Radio der Zukunft - „Stay Tuned!“

Jörg Adolph / Gereon Wetzel