Edgar Reitz steht im Gemeindesaal des Hunsrückdorfs Gehlweiler vor 80 neugierigen Bewohnern. In Gehlweiler finden sich die Schmiede und das Haus der Familie Simon aus dem weltberühmten HEIMAT-Zyklus. Nun soll hier in großem, historischen Stil wieder gedreht werden. Ein Modell zeigt, wie das Dorf im Jahre 1840 aussehen soll. Ob man dann nur noch mit Gummistiefeln auf die Straße gehen könne, will ein aufgeregter Bürger wissen? Edgar Reitz kann mit derlei praktischen Einwänden nicht gut umgehen. Er wirkt beleidigt, weil nicht alle im Dorf sogleich die Bedeutung seines Filmprojekts einsehen. Erst am Schluss der Versammlung hebt er an zu einem filmreifen Plädoyer: „Einen Film machen, ist ein Handwerk wie jedes andere auch. Jeder von ihnen weiß bei seiner Arbeit, ob er sie gut macht oder nicht. So geht es uns auch. Wir wollen einen guten Film machen. Und ich glaube, das ist etwas, das in unserer Zeit sehr selten vorkommt, dass man stolz sein kann, auf das was man gemacht hat. Wir könnten genauso gut ein Dorf auf einem Filmgelände bauen, wo alles anonym ist. Wir bauen es hier, an diesem Ort, wo wir unsere Wurzeln haben.“ Jetzt wird laut applaudiert.
In unserem Dokumentarfilm kommt dieses Plädoyer nicht vor. Es wirkte in der Montage zu pathetisch, zu abgeschlossen. Im Dokumentarfilm muss man die Dinge in der Schwebe halten, um Wirklichkeit erzählbar zu machen. Doch hier zeigen sich zentrale Merkmale der Persönlichkeit und der filmischen Handschrift von Edgar Reitz: Er kann ein Sturkopf mit dramatisierender Weltsicht sein, besessen von seinen Ideen. Und er schafft es in den wichtigen Momenten, die richtigen Worte zu finden, um Menschen zu begeistern. Er hat den höchsten Anspruch an das filmische Handwerk. Er sagt: „Film kann Heimat sein.“
In seinen Produktionstagebüchern hat Edgar Reitz oft von Unsicherheit und Sorgen während der Filmarbeit berichtet. Dem herkömmlichen, werblichen Making-of liegt aber nichts ferner, als der Zweifel an der Machbarkeit, der künstlerischen Vision, am Erfolg. Bei Reitz hört man dagegen eine radikale, befreiende Erkenntnis heraus: „Wir haben zwar alles getan um Risiken abzuwägen, aber nichts, was zu tun ist, kann sich auf Routine und sichere Rezepte gründen. Es ist eine lange Reise ins Ungewisse.“ Von dieser Reise kann nun unser Film erzählen.
Zum Filmemachen gehört zentral die finanzielle Situation einer Produktion. Und mit knapp acht Millionen Euro ist DIE ANDERE HEIMAT vergleichsweise nicht einmal üppig budgetiert. Trotzdem drängt sich mir am Set, während der Kran aufgebaut wird, ein Tagtraum auf: Wie viele Filme mit unserem aktuellen Budget könnte ich mit acht Millionen machen? Antwort: 40 Filme - mehr als ein Lebenswerk.
Beim Spielfilm muss alles groß sein - „bigger than life.“ Nur was viel kostet ist auch was wert. Schwere Geräte und Menschenmengen müssen bewegt werden, so definiert sich das Selbstbewusstsein der Branche. Edgar Reitz hat auf dem Podium zur 50-Jahr-Feier des Oberhausener Manifests dazu etwas Aufschlussreiches erzählt: „Ich habe vor ein paar Jahren mal die Idee entwickelt für zehn Filme für eine Millionen – alles zusammen. Damit bin ich zu fast allen Förderungsinstitutionen in Deutschland gegangen und habe überall nur das Signal bekommen, wenig Geld ist schwer zu kriegen. Wenn sie das Zehnfache haben wollen, können wir drüber reden. Das klingt völlig absurd. Aber es ist Konsens, dass mit einem gewissen Aufwand konzipierte Filme besser in das Geschäft und in die Landschaft passen, als kleine.“
Zurück zu meinem Tagtraum: Wenn nun die Filmförderungen weiter eigensinnige Filme wie den von Edgar Reitz unterstützen, aber mal einen kommerziellen Erfolgskracher auslassen würden, um dann mit diesem Geld initiativ zehn unabhängige, in künstlerischer Freiheit entstehende Dokumentarfilme zu ermöglichen… Eine kleine Verschiebung der Wirtschaftsförderung in Richtung Filmkultur könnte eine Aufbruch-Stimmung wie die nach Oberhausen erzeugen.
Bei über 100 Drehtagen kommt einiges zusammen. In der Montage arbeiten wir uns wochenlang am Weglassen von lieb gewonnenen Szenen ab, um aus dem Material einen stringenten Erzählfluss zu gestalten. Das folgende Gespräch ist eine (leider) entfallene Szene. Der Rohschnitt von DIE ANDERE HEIMAT wird vorgeführt. Günter Rohrbach, der Mentor des Films, zollt Edgar Reitz seinen Respekt: „Man muss ja sagen, in seinem Alter hat er nicht nur diesen Wahnsinns-Film gedreht, mit dieser Länge und diesem Aufwand, sondern er ist auch gleichzeitig immer im Schnitt gewesen. Also ich meine, welcher junge Regisseur schafft das?“ Der Co-Autor Gert Heidenreich ergänzt: „Ich habe ihn nach den Dreharbeiten gesehen, und ich dachte, was ist das für ein junger Mann?“ Darauf erklärt Edgar Reitz, dass es für diesen Vitalitätsschub nur eine Erklärung geben kann: „Artgerechte Haltung.“
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