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Der Dokumentarfilm geht ins Theater Post2PDF

Überlegungen zum Film “Die Reproduktionskrise”
von Jörg Adolph & Gereon Wetzel

“Zeitweiligen Unterschlupf gefunden hat die ernsthafte Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen derzeit im Theater…” 1

Wir sind Dokumentarfilmer und können das nur bestätigen: Weder Kino noch Fernsehen sind bei der “ernsthaften Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen” derzeit besonders hilfreich. Hier wie dort scheinen Programm- und Wahrnehmungsraster zementiert. Dagegen ist dokumentarisches Gelingen allgemein zu flüchtig, als dass es sich mit Formatvorgaben und Quotenerwartungen auf Dauer verheiraten ließe. Das ist nicht weiter tragisch. Davon gehen wir aus. Wir erwarten keineswegs, dass der Dokumentarfilm den Kino-Mainstream weiter erobern wird und wir erhoffen auch nicht, dass Fernsehsender demnächst verstärkt nach freien Formen verlangen. Also benötigen wir “zeitweiligen Unterschlupf” in kulturellen Nischen, die eine produktive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Spielformen des Dokumentarischen begünstigen können. Warum also nicht Theater?

Das Theater hat ein vitales Interesse am Rohstoff Wirklichkeit, denn dem Theater haftet etwas grundsätzlich Künstliches, wenn nicht Weltfremdes an. Man sagt, “Mach nicht so ein Theater” oder “Das ist doch kein Drama”, um Normaltemperatur und Bodenhaftung wiederherzustellen. Während also die heute erfolgreichen Kinodokumentarfilme zunehmend märchenhafte Züge tragen und sich die Fernsehdokumentationen von der Informations- zur Emotionsfixierung bewegt haben, sucht Theater wie zum Ausgleich nach Erdung mittels dokumentarischer Stoffe. Das ist eine gute Sache und wir blicken ein wenig neidisch auf die dort vorhandenen Möglichkeiten. Das staatlich subventionierte Theater verfügt nicht nur über Mittel, Tradition und den Glauben an mitdenkende Zuschauer, sondern bedient sich zudem einer offensiven Diskursführung. Man stelle sich nur einmal vor, ein Filmproduzent würde von einem “Laboratorium neuer Denk- und Arbeitsformen” (aus dem Programm der Münchner Kammerspiele) sprechen! Ein solches Selbstbild verträgt sich schlecht mit den Konsensbemühen eines Massenmediums. Aber vom Theater dürfen wir derlei verlangen: “Dass die Leute denken: Mann-ist-das-geil / Scheisse-das-geht-jetzt-gar-nicht! Das mache ich doch von morgens bis abends.” Diesen einprägsamen Satz sagt der Schauspieler Stephan Schad in unserem Film DIE REPRODUKTIONSKRISE zur Regisseurin Simone Blattner, um den Minimalkonsens ihrer gemeinsamen Arbeit zu definieren. Mit diesem Selbstbewusstsein sollte man auch Dokumentarfilme machen und betrachten können.

DIE REPRODUKTIONSKRISE begleitet den Inszenierungsprozess des dokumentarischen Theaterstücks TORSCHUSSPANIK. Für dieses Stück interviewte die Schweizer Autorin Mirjam Neidhart Menschen, quer durch Gesellschafts- und Bewusstseinsschichten, die Probleme mit dem Kinderwunsch haben. Am Hamburger Thalia Theater konnten wir bei den Probenarbeiten zur Erstaufführung die Regisseurin, den Dramaturgen und sechs SchauspielerInnen beobachten, welche dann in der Filmmontage mit den echten Interviewten konfrontiert wurden: Hier die realen Lebensgeschichten und Schicksale, dort der Versuch aus diesen Interviews einen Theatervorgang zu gestalten. Realität wird zum Theater und das Theater erzeugt seine eigene Realität. Unser Film spielt sich im Dazwischen ab. Ein doppelt dokumentarischer Blick auf die Schwierigkeiten von Reproduktion - im Leben und auf der Bühne, so unser Slogan im Exposé, der schriftlichen Filmbeschreibung vor Drehbeginn. Unsere Redakteurin Petra Felber gab uns noch scherzend mit auf den Weg: “Das Theater ist der natürliche Feind des Dokumentarfilms.” Was soll da noch schief gehen?

In England gibt es einen Erfahrungsvorsprung im Umgang mit dokumentarischen Texten im Theater. Was in Deutschland durch Theatergruppen wie Rimini-Protokoll an Bedeutung gewonnen hat, ist in England Trend. Dort wurde auch ein schöner Name dafür gefunden: VERBATIM THEATRE - Wörtliches Theater. Verbatim Theatre wird nicht im klassischen Sinne von einem Autor erdacht, eher wird gesammelt, verdichtet und montiert, was das Leben an unterschiedlichen Blickwinkeln zu bieten hat. Das hat einen unschlagbaren Vorteil: “Verbatim theatre stimulates you in a different way - and you can stop boring everyone with what´s going on inside just you”, meint dazu der populäre Theaterautor Mark Ravenhill. Ähnlich stimulierend mussten in den 60er Jahren die dokumentarischen Dramen von Rolf Hochhuth oder Peter Weiss gewirkt haben. Begriffe wie “der dokumentarische Blick”, “dokumentarische Haltung” und “dokumentarische Methode” wurden damals zu Zauberwörtern einer “Ästhetik des Widerstands”.
Thematisch behandeln die Stücke heute politische und soziale Lebensaspekte, vielfach auch Historie, Katastrophen oder sogar Sport. Verbatim Theatre ist wie Dokumentarfilm, aber mit den Mitteln des Theaters: Man interviewt Menschen, die ihre eigene Geschichte erzählen und ihre Meinung kundtun. Im zweiten Schritt sind es dann meist Schauspieler, die diesen Menschen auf der Bühne Stimme und Gesicht geben. Oftmals wurde die besondere Qualität der Texte im Verbatim Theatre hervorgehoben und gefolgert, dass das gesammelte Material deswegen so viel besser als z.B. Fernsehinterviews zum gleichen Thema ist, weil eben keine Kamera den Interviewten unter Darstellungsdruck setzt. Ein weiteres Qualitätsmerkmal ist sorgfältige Recherche und eine großzügige Ausführlichkeit in der Sammlung und Bearbeitung von Material, die im journalistischen Alltag kaum zu gewährleisten ist und die eine größere Gesprächsintensität und komplexere Montage von Inhalten möglich macht. Verbatim Theatre füllt so Darstellungslücken im medialen Diskurs. Auch Mirjam Neidhart formuliert ihre Motivation für das Theaterstück TORSCHUSSPANIK aus einem Mangel heraus: “Worüber reden wir eigentlich? Wir reden über Zahlen, wir reden über Anschuldigungen, aber wir reden nicht darüber, was Menschen tagtäglich beschäftigt. Es geht um einen differenzierten Blick.”

Die Interviews zu TORSCHUSSPANIK fanden vielfach in Küchen statt. Wir sind dabei, wie Mirjam Neidhart ihr Aufnahmegerät auf Küchentischen platziert und geduldig Stimmen und Stimmungen zum Thema Kinderwunsch sammelt. Unverkrampfte Interviews mit Teetasse in der Hand neben surrenden Kühlschränken und tropfenden Wasserhähnen. Auf der Probebühne wird dann dieser intime Gesprächscharakter auf seine Theater-Tauglichkeit hin getestet: “Mach es mal ganz realistisch, wie am Tisch halt. Küchenrealismus”, lautet eine Regieanweisung, um dann schnell zu dem Ergebnis zu kommen: “Das trägt nicht auf dem Theater.” Die Sorge der Regisseurin ist verständlich. Theater soll ja nicht das Leben verdoppeln. Eher soll es das Alltägliche durchdringen und beleben. Theater soll ein magischer Ort sein! Das deckt sich unter anderem mit den Überlegungen von Theaterguru Peter Brook: “Wenn sich neue Stücke anheischig machen, die Wirklichkeit nachzuahmen, spüren wir mehr die Nachahmung als die Wirklichkeit.”2 Und das kann nun wirklich keiner wollen. Was in der Küche, vielleicht durch die beiläufige Atmosphäre möglich ist, ein offenes, suchendes Gespräch, wurde im Theater in der ersten Probenwoche hinterfragt. Begriffe wie “psychologisch”, “naturalistisch” und besonders “dokumentarisch” werden problematisiert. Die Regisseurin: “Das sind dokumentarische Texte, aber wir sind auf dem Theater. Und wenn du die einfach dokumentarisch machst, hörst du nach zehn Minuten nicht mehr zu. Weil du hast nicht die Großaufnahme und kannst nicht schneiden. Das wäre dann ein Dokumentarfilm, einen Spielfilm würdest du auch anders machen.”
Viel stärker, als es die Filmmontage könnte, verdichtet und dramatisiert das Stück die Interviews - aus 700 Seiten Interviewprotokollen hat die Autorin 40 Seiten Theatertext destilliert - doch für das Theater scheint das nicht auszureichen. Man sorgt sich um Redundanzen, Plattitüden und um “schlechte Sprache”. Es grassiert die “Mimesis-Grippe”, nichts fühlt sich mehr echt oder richtig an. Also wird nach stilisierten Darstellungsformen und einer künstlichen Grundsituation gesucht: “Ich will nicht, dass das so eine Betroffenheitskacke wird. Wir müssen an eine Show eher denken. Wir müssen unterhalten!”

Beim Schimpfen auf die falsche Betroffenheit mochten wir der Regisseurin aus vollem Herzen zustimmen. Denn vor, während und nach den Dreharbeiten sahen wir zahlreiche Reportagen zur aktuellen Reproduktionskrise. Darin in ihrem Kinderwunsch verbissene Frauen und Männer beim x-ten Versuch einer künstlichen Befruchtung, vor dem Arzt mit den Tränen kämpfend und sich ausheulend in Selbsthilfegruppen, untermalt von sülziger Musik. Und alle Beiträge mit Happy End, d.h. mit Geburtsgarantie! Ein absurdes Schauspiel als Fortsetzung der Elterngeld-Regierungskampagne “Vorteil Familie” und konservativer Fortpflanzungsfibeln von Frank Schirrmacher bis Eva Herrmann.
Kein Zweifel: Wir arbeiten an einen Film zum “Thema der Stunde”, zu dem jeder eine Meinung hat und alle schon alles gesagt haben. Weil das so ist, haben wir diese gesellschaftliche Diskussion in ihrer Spiegelung mit dem Theater gewählt. Denn darin sehen wir eine gute Möglichkeit, dieses brisante Thema jenseits von Gerede, Betroffenheitsreportagen und familienministerialen Werbebroschüren anzugehen. Wir hegen die Hoffnung, durch die abstrakte Annäherung eine produktive Distanz zu gewinnen. Auch uns geht es um ein genaueres Hinhören und den viel beschworenen differenzierten Blick. Es geht nicht um Rechthabenwollen.

Ein oft benanntes Problem beim Verbatim Theatre ist die Tendenz, sich in der Darstellung über das Gesagte lustig zu machen, schlauer sein zu wollen, als das was verhandelt wird. Das passiert, wenn die Regie ihre eigene Meinung über das Kollektiv der Stimmen im Stück stellt. Wir kennen Vergleichbares aus den TV-Reportagen, wo ein über den Dingen schwebender Kommentar permanent erklärt und bewertet, was gerade zu sehen oder nicht zu sehen ist. Beim Theater wird dieser Kommentar in der Inszenierung erzeugt, indem mit verstellten Stimmen oder Sprachfehlern, falschen Betonungen oder affektierten Gesten sich über die dargestellten Personen erhoben wird. Über den Text legt sich dann eine Schicht von Distanz und Ironie. Die SchauspielerInnen in unserem Film hinterfragen diese Tendenz, merken an, dass die Geschichten immer dann am besten wirken, wenn man die Haltung dahinter ernst nimmt. “Wenn man die Geschichten einfach nur gut erzählt.” Aber “reicht das auf dem Theater” oder braucht man hier eine spezielle Idee, einen besonderen Inszenierungsimpuls? Wie viel Authentisches verträgt das Regietheater?

Das Theater hat ein begründetes Interesse am Dokumentarischen, aber ebenso ist es umgekehrt: Es gibt die Tendenz zu theaterhaften Inszenierungen im Dokumentarfilm. DER KICK basierend auf Interviews und dem Theaterstück von Andres Veiel, ist ein exponiertes Beispiel dafür. Andere Filme verwenden die stilisierte Form des Theatermonologs, lassen Protokolle verlesen oder Laien Szenen nachspielen. Der Dokumentarfilm nähert sich hier seinem Gegenstand mittels einer betont künstlich gestalteten Bearbeitung des dokumentarischen Materials. Verwendet werden Darstellungsmuster (und oft auch Darsteller), die aus dem Theater bekannt sind. Das liegt sicher daran, dass bestimmte Stoffe anders nicht fassbar sind. So konnte Veiel zwar ausführlich mit seinen Protagonisten sprechen, aber sie weigerten sich vor einer Kamera zu erzählen. Denn oftmals haben die Protagonisten erlebt, wie sie im Fernsehen schlicht vorgeführt wurden. Die gefräßige Welt des Reality-TV hat es geschafft, dass nachdenklichere Menschen unüberwindliche Vorbehalte gegen Kameras hegen. Als Dokumentarfilmer ist es manchmal kaum verständlich zu machen, dass man einen anderen filmischen Ansatz verfolgt. Denn für die meisten Menschen ist alles eine ununterscheidbare Doku-Brühe und die Kamera ein Menschenfresser. Und sie haben ja fast immer Recht damit. So ist zunehmend ein Darstellungsproblem entstanden. Ganz zu schweigen davon, dass in besonders intimen oder heiklen Situationen die dokumentarische Kamera ohnehin unmöglich ist. Also greift man auf theaterhafte Formen zurück und verdichtet in der Inszenierung, macht manche Dinge so überhaupt erst darstellbar. Es zeigt sich in dem Trend zu mehr Theater im Dokumentarfilm aber auch eine Unzufriedenheit mit den herkömmlichen dokumentarischen Gestaltungsmöglichkeiten - dem Interview, der szenische Beobachtung und dem Kommentar. Und vielleicht zeigt sich so ein unausgesprochener Wunsch, dass Dokumentarfilm stärker als gestaltete Realität verstanden werden will. Der Image-Transfer über eine andere Kunstform kann dabei hilfreich sein. So gut ist der Ruf des Theaters alle Mal.

Nach drei Wochen Theaterproben scheint jeder dokumentarische Ansatz dem Stück ausgetrieben. Die Proben sind oft unterhaltsam bis komisch, und es wird turbulent in unserem Film, denn der “Scheißtext” fliegt über die Bühne. “Das Theater ist der natürliche Feind des Dokumentarfilms.” Wir hätten es wissen müssen. Auf der anderen Seite bekommen wir so unsere im Filmtitel beschworene doppelte Krise. Auch die Reproduktionsbemühungen auf der Probenbühne tragen krisenhafte Züge. Und überhaupt: Sind wir nicht davon überzeugt, dass unser Film in seiner Montage alle Probleme, die das Stück oder die Inszenierung haben mag, in eine produktive Form verwandeln kann? Dass unsere dokumentarische Methode das Beste aus allen Welten - Interviews, Erzählungen, Theaterarbeit, Gespräche und Inszenierung - überzeugend in einem Metatext zusammenbringt? 1001 Facetten von Fiktionalität, Realität, Theatraliät! Schließlich geht es uns doch gerade um die Brüche, die bei der Gegenüberstellung von Interviews und Inszenierung entstehen. Der gute, alte Brechtsche Verfremdungseffekt: Wir blicken in die Mechanik unserer alltäglichen Rollenspiele: “Wir bigbrothern uns durch unseren Alltagssumpf oder werden durch die Strudel der Soaps und Sitcoms gerissen, die Erkenntnis befördern, das jede menschliche Äußerung einen performativen Aspekt hat, es keinen inszenierungsfreien Raum, keinen Inszenierungsurlaub gibt. Und rahmte man uns, ja, setzte man uns in jenes bewegte Bild, wäre möglicherweise zu sehen, wie da immer wieder mit Naturalismen gearbeitet wird, authentische Effekte erzeugt werden, Schauspielgesten jene Wirklichkeit erst herstellen, die wir so sehr suchen.”3

Wenn man Reality-Shows oder Doku-Soaps anschaut, ist einem zumeist bewusst, dass hier Menschen nach Typen gecastet wurden, die in zugespitzten Situationen, unterlegt mit der passenden Stimmungsmusik, Leben nachspielen. Was man sieht ist auf dramaturgische Muster hin zugerichtet, dabei zumeist verbogen und verlogen. Fernsehen ist hier die künstlichste aller Welten. Das macht aber nichts, denn wir erleben solche Dokuformate eher als Unterhaltungsprogramm, selten als Repräsentation einer Lebenswirklichkeit. Das ist beim Dokumentarfilm (und beim Verbatim Theatre) anders. Hier denken wir kaum an das Hergestellte, Produkthafte, sondern erwarten authentische Momente, überraschenden Zugriff auf Realität und tiefe Einblicke in echtes Leben. Das ist der unique selling point des Dokumentarfilms: Es ist eben nicht nach einer wahren Geschichte, es ist die wahre Geschichte. Unser Film DIE REPRODUKTIONSKRISE verwendet zudem einen dokumentarischen Stil, der diese Erwartung noch befördert, indem er bewusst auf sichtbare Eingriffe verzichtet: Kein Kommentar, keine Interviews. Wir verfolgen einen Prozess, wie er sich ereignet, lassen die Menschen miteinander reden. Man gewinnt bestenfalls den Eindruck, unmittelbar dabei zu sein. Die Kamera bleibt unsichtbar. In Frankreich wurde diese elegante Authentiziätsstrategie in den 60er Jahren Cinema Verité genannt, seit aber Erkenntnistheorie und Postmoderne hinter jede Wahrheit ein Fragezeichen gesetzt haben, klingt der amerikanische Stilbegriff besser: Direct Cinema. Denn dieser Begriff verbindet in sich eine zentrale Unterscheidung: Das Echte und das Fiktive. Das DIRECT deutet auf einen unvermittelten, puren Realitäts-Zugriff. Während das CINEMA bereits auf die spielfilmartige Form, das drei Akt-Schema einer jeden konventionellen, filmischen Erzählung hinzielt. Ein Schema, das auch wir für unseren Film gerne benutzt haben. Wir halten fest: Unser Dokumentarfilm ist grundlegend konstruiert, damit er so erscheinen kann, als schauen wir dem Geschehen nur zu. Es entsteht alternative Echtheit, gestaltete Authentizität…

Es gibt ein weit reichendes Missverständnis, das Dokumentarfilme direkt der Natur zu entspringen scheinen und daher die Wahrheit repräsentieren. Die wichtige Frage nach der Machart, der Handschrift des Films wird so unterdrückt. “Ist doch dokumentarisch” - und das ist an sich schon irgendwie gut. Das Genre selbst bürgt für Realität und steigert das Sozialprestige der Rezipienten, also muss nicht im Detail geschaut und nachgefragt werden. Selbst Filmkritik und Feuilleton machen das nur in Ausnahmefällen. Und so wird auch noch der größte esoterische Kitsch, die dümmlichste Dramatisierung des Exotischen oder das konventionellste Fußballweltmeisterschafts-Homevideo mit einigem Wohlwollen zur Kenntnis genommen. Selbst sprechende Pinguine können den Dokumentarfilm-Oskar gewinnen. Dokumentarfilm ist das Ritual eines kleinen, eingeweihten Kreises, eine Art medialer Ablasshandel, bei dem man sich seine zuträgliche Dosis Realität abholen kann. Dabei wäre es für “die ernsthafte Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen” erste Bildungsbürgerpflicht, sich vom Glauben an den dokumentarischen Abbildrealismus zu verabschieden und zu fragen, welche Stilmittel denn mit welcher Absicht Anwendung finden. Es ginge darum, die Sensibilität für die feinen, dokumentarischen Unterschiede zu steigern. So wie sich heute viele zum Feinschmecker oder Weinkenner verfeinert haben, wäre es ein wichtiger Kompetenzgewinn auch beim Dokumentarfilm nach Herkunft und Zusammensetzung zu fragen und zwischen einem x-beliebigen Gemisch aus Massenherstellung und dem Einzelstück aus der Manufaktur deutlich zu trennen. Weil Dokumentarfilm notwendig immer konstruiert ist, gilt es zu fragen, ob das Authentische eher eine gut oder eher eine schlecht gemachte Fiktion ist. Das soll uns nun nicht den Glauben an den Dokumentarfilm austreiben. Im Gegenteil: Nur wenn wir uns darauf konzentrieren, wie sehr ein Dokumentarfilm tatsächlich das Produkt menschlicher Entscheidungen und Konstruktionen ist, werden seine Haltung und seine Absicht deutlich. Und nur unter dieser Perspektive kann sich Dokumentarfilm als eigenständige Kunstform behaupten, sich von journalistischen Darstellungsmustern und spielfilmartigen Erzähldramaturgien lösen. Und so können auch die zentralen Fragen in den Vordergrund treten: Zu welchem Zweck verbinden sich Form und Inhalt? Wie formulieren sich Haltung und Stil? Und gibt es Auswege aus der Reproduktionskrise?

In TORSCHUSSPANIK erzählt eine Frau, die sich auf die Reproduktionsmedizin einlassen wollte, dass die Chance Zwillinge zu bekommen, doppelt so groß bei künstlicher Befruchtung sei. Ähnliches kann man auch über unseren Film sagen. Das reine Abwarten und Beobachten führte nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen. Teilweise mussten wir Gespräche arrangierten, damit es zu einem Austausch zwischen Autorin und Schauspielern kommen konnte, ein paar Mal vereinbarten mit den Beteiligten Termine außerhalb des Theaters, damit wir die größten, erzählerischen Lücken unseres Films füllen konnten.
Einmal von der reinen Lehre abgewichen, kann nun auch gebeichtet werden, dass die Interviews, die Mirjam Neidhart für ihr Stück geführt hat, ein Jahr vor unserem Filmprojekt im Rahmen eines Stipendiums entstanden sind. Wie hätten wir zu diesem Zeitpunkt, als selbst die Autorin noch nicht wusste, ob daraus ein Stück werden wird, anwesend sein können? Wir hatten uns also eigens für den Film mit der Autorin und ausgesuchten Interviewpartnern noch einmal an den Küchentisch gesetzt und haben die Gespräche in Auszügen wiederholt. Das, was zwischen der Autorin und den Interviewten einst als anonyme, intime Erzählung aufgenommen wurde, musste für unser filmisches Konzept notwendig öffentlich gemacht und reproduziert werden. Wir baten Interviewte und Autorin ein klein wenig Theater zu spielen. Die Gewissheit, dass ein Interview in sich schon immer eine alltagsferne Rahmenkonstruktion ist, machte uns diesen Eingriff leichter. Aber wir wurden überrascht, wie deckungsgleich, mitunter identisch die Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen. Wir hörten unsere neuen Interviews und verglichen sie mit den alten Tonbandaufzeichnungen der Autorin. Die Gespräche der Menschen sind nicht nur in sich redundant, sie reproduzieren sich auch in nur geringen Abweichungen. Obwohl ein Jahr zwischen den Interviews lag, wiederholten sich Sätze manchmal bis aufs Komma. Schnell war die Kamera nicht mehr wichtig und das Gespräch zwischen Autorin und Interviewten bewegte sich quasi natürlich auf den längst ausgetretenen Pfaden der eigenen Lebenserzählung.

Bei der ersten Hauptprobe sitzt der Theater-Intendant unter den Zuschauern. Er zeigt keine auffällige Begeisterung, aber die Inszenierung scheint ihm auch nicht völlig aus dem Ruder gelaufen. Wohl aber bemerkt er, dass es hier an Leben fehlt, wo es doch genau bei diesem Stück darum gegangen wäre, etwas auf die Bühne zu bringen, das nicht nur Theater ist. In der Nachbesprechung findet er einen aufschlussreichen Vergleich: “Weil man im Moment ja wahnsinnig viel Authentisches erlebt, hab ich gedacht, wie bei dieser Sendung, wie heißt die, 36 Grad oder so, die immer so eine halbe Stunde im ZDF ist, die ist ja supergut. Da wäre es ja so, wenn man einfach Leute auf der Straße interviewt und die dann so sieht, ist man ja immer wahnsinnig nah dran, weil man denkt: Plötzlich tut sich so ein Schicksal auf.” Seltsam, ein Theater-Intendant bezieht sich auf das Fernsehen als Instanz in Authentizitätsfragen. Naturgemäß kann dem Intendanten dieses Medium nicht besonders nah sein und es ist bestimmt seiner feinen Ironie geschuldet, dass er die Körpertemperatur des Reihentitels ein Grad kälter einstellt. Aber angesichts der Inszenierung von TORSCHUSSPANIK wünscht er sich doch ein wenig mehr Fernsehen als Theater. Sein Vorschlag geht in eine Richtung, die uns hellhörig macht: “Wie wäre es denn, wenn ihr am Anfang euch einfach privat über das Thema unterhaltet. Weil das ist ja ein Thema, wo jeder eine Erfahrung hat. Das merkt man ja auch als Zuschauer, weil man selbst nah dran ist, weil man denkt, man ist Profi.” Die Schauspielerin Verena Reichhardt findet klare Worte, um sich von diesem letzten Wunsch nach authentischer Nähe zu distanzieren: “Ich würde meine ganzen Unterleibsgeschichten nicht im öffentlichen Theater erzählen.” Und zum Glück auch nicht vor unserer Kamera.

Es gibt viele Menschen, die ihre “Unterleibsgeschichten” wahnsinnig gern erzählen und sich auch noch bereitwillig bei Samenspende oder Geburt filmen lassen. Das sind vielleicht nicht immer die Leute, die ein Theaterabonnement ihr Eigen nennen, aber nicht wenige davon tauchen in “36 Grad” auf. Und sogar in Mirjam Neidharts Interview-Auswahl finden sich enthemmte Talk-Show-Persönlichkeiten, wahre Rampensäue des Alltags. Einmal stellten wir das Interview mit einer Frau nach, die mit einigem Stolz berichtete, sie sei bereits in vier Talkshows aufgetreten. Zu ganz unterschiedlichen Themen! Zum Kinderthema hätte sie natürlich auch eine Meinung und zwar nicht zu knapp. Es ist das große Geschick der Autorin, dass sie aus den Äußerungen dieser Frau - einer Ansammlung von flotten Sprüchen und gewollten Provokationen - den konsistenten Text einer entschiedenen Kindergegnerin montieren konnte. Der Text ist der Prolog von TORSCHUSSPANIK. Er ist ein klares Statement und man kann sich dahinter eine komplexe Persönlichkeit vorstellen. In der Filmmontage ist uns das mit dem Interview nicht gelungen. Zu deutlich wurde in jeder Betonung und jeder Geste, dass hier jemand verzweifelt Öffentlichkeit sucht und dabei die Grenze der Intimität verletzt, um zu einer TV-Persönlichkeit zu werden.

“Vielleicht ist das hier ja die Arte-Variante einer Krawalltalkshow!”

Nach allem was hier bisher geäußert wurde, kann unser Film kaum sinnvoll enden, ohne selbstreflexiv zu werden und die textliche Basis, die Interviews, als eine relative Wirklichkeit zu dekonstruieren. Unsere Frage muss sein: Wie authentisch kann ein Interview überhaupt sein? Denn der individuelle Eindruck von Wahrhaftigkeit entsteht doch im Kopf des Zuschauers in der Rezeption und ist nichts weiter als ein rhetorischer Kniff. Das ist ein Grund, warum wir selbst auf Interviews verzichten. Wir lassen lieber interviewen und fächern dann das Ergebnis auf. Am Anfang der Dreharbeiten ergab sich die Situation, dass ein Interviewpartner unsere filmische Anordnung in Frage stellte. Er wollte nicht das Gespräch mit der Autorin wiederholen, sondern lieber über den vor einem Jahr entstandenen Text reden. Das wurde zu unserer filmischen Sollbruchstelle. Der Protagonist blickt amüsiert und distanziert auf die Textmontage seiner eigenen Sätze und sagt: “Das ist ja eine sehr zugespitzte Geschichte. Es wäre auf jeden Fall nicht die Geschichte, die ich erlebt habe.” Spätestens hier beginnt der Film sich selbst zu analysieren und erweitert sich zu einer grundsätzlichen Quellenkritik. Der Protagonist wirkt beinahe wie ein Schauspieler. Und doch ist das was er sagt, bestimmt wohlüberlegt, aber keinesfalls einstudiert. Mit ein paar Sätzen bringt er Interviews, Theaterstück und Film zu einem Fazit und weitet den Reproduktionsgedanken von den Genen hin zur Sprache: Geschichtenerzählen wird zum existenziellen Faktor. Sean Wulf sagt am Küchentisch zur Autorin: “Die Authentizität, die wir erreichen können, ist die Authentizität zwischen uns beiden, wenn ich dir eine Geschichte erzähle. Ich erzähle dir etwas aus meinem Leben und das fühlt sich für uns beide authentisch an. Du findest es sympathisch und nachvollziehbar, wenn ich es auf eine bestimmte Art erzähle und ich versuche die Art zu finden, auf die du es sympathisch und nachvollziehbar findest. Die ganze Zeit ist es ein Wechselspiel zwischen uns beiden. Vielleicht machst du irgendwann ein abweisendes oder ermüdetes Gesicht und dann versuche ich zu ergründen, warum das so ist und versuche meiner Geschichte hinzuzufügen, was dir daran fehlt. Und plötzliche erzähle ich diese Geschichte anders. Und dadurch fühle ich auch, dass meine Existenz, also meine Lebensgeschichte nicht in mir und meinem Inneren speziell aufbewahrt ist, sondern sie entsteht erst dadurch, dass ich sie erzähle, anderen Menschen erzähle, die dann auch wieder Träger dieser Geschichten sind. Und ein Stück von mir existiert dann in den Beziehungen zu diesen Menschen und in den Erzählungen, die wir voneinander haben. So stelle ich es mir vor.” Sagt er und lacht. SO STELLE ICH ES MIR VOR. Dieser Moment fühlt sich für uns “authentisch” an. Dieser Moment scheint nicht reproduzierbar. Die besten Momente (unseres Films, des Theaterstücks) kann man nicht kontrollieren, nicht inszenieren. Sie sind vage, unsicher, fragil. Das ist die das Unverwechselbare des Dokumentarischen, an dessen ernsthafter Erprobung und Weiterentwicklung in vielen Medien gearbeitet werden sollte.

Im Stück (im Film) gibt es Majas dramatische Schilderung der Geburt ihres ersten Kindes Bruno, das behindert zur Welt kommt. Während der Dreharbeiten schreiben wir der Autorin Mirjam Neidhard von den Proben an diesem zentralen Text in ihrem Stück. Sie antwortet: “Liebe Filmer, vielen Dank für die News. Heute feiert Bruno, das Kind von Maja seinen siebten Geburtstag. Ich habe ihn getroffen und das hat mich sehr berührt, dass ihr gerade fünf mal am Tag dieser furchtbaren Geburtsgeschichte zuhört und hier springt ein vitales Kind durch die Gegend und begrüßt mich stolz mit den Worten: Weißt Du wer heute Geburtstag hat? Ein kleiner Gruß aus der erfreulichen Realität - Mirjam.”

1 Silvia Hallensleben, In: epd Film, Sonderheft Februar 2007: Was tut sich im deutschen Film,
S.52

2 Peter Brook: Der leere Raum. Berlin 1997, S.47
3 Kathrin Röggla, in :Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 103
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