von Jörg Adolph & Ralf Bücheler
1989 hat Harun Farocki einen Film gedreht, der aus 32 unkommentierten Übungs-, Therapie- und Spielsituationen besteht: LEBEN - BRD. Ein ebenso verblüffendes wie elegant reduziertes Filmkonzept. Wir blicken auf ein Volk von Simulanten, das einen Testlauf durchs Leben absolviert. Eine Biografie in Orientierungsvorschlägen vom Kurs für Säuglingspflege bis zur Schulung für Lebensversicherungsvertreter. Zuerst fällt da die Faszination des Dokumentarfilmers am Rollenspiel auf, denn hier werden die Dinge des Lebens auf den Begriff und in einen dramaturgischen Ablauf gebracht. Farocki schrieb dazu: „Schon lange denke ich an Dokumentarfilme mit Darstellern, möchte ihnen aber nicht sagen, wie sie zu spielen hätten. Sie würden meine Intendanz oder ihr eigenes Darstellersein dokumentieren; hier dokumentieren sie den Weltentwurf der Militärs, Kirchen, Sozialämter, Versicherungen.“ Farocki nannte im Exposé (dem Text, um Finanzierung und Unterstützung für das Filmprojekt zu sichern) auch filmische Vorbilder und erinnerte an das Genre des Kompilationfilms: „Der Film THE ATOMIC CAFÉ montiert Lehrfilme aus den 50iger Jahren: wie man sich gegen die A-Bombe schützt und das Leben mit der Bombe einübt. Ich will einen Film machen, der aus etwa 20 Szenen montiert ist, Szenen, in denen gelehrt wird, wie man heute hier leben soll und mit denen dieses Leben beschworen werden soll. Michael Klier mit DER RIESE zeigte die BRD im Überwachungsbild und ich will die BRD im Bild der Einübung und Beschwörung zeigen.“ (Harun Farocki, Exposé zu WIE SOLL MAN LEBEN IN DER BRD)
Beim Wiedersehen von LEBEN - BRD fiel uns der schräge Humor dieses einzigartigen Films auf und wie erstaunlich fremd die BRD von 1989 wirkt. Wir kamen zu dem Schluss, dass der Film nach einem „Update“ verlangt, denn ungeheuer viel hat sich im Geschäftsbereich Coaching, z.B. unter dem Begriff „lebenslanges Lernen“ oder auch in der Entspannungsindustrie getan. Gut 25 Jahre später begeben wir uns also auf eine Reise durch Deutschland und untersuchen aktuelle Lebensentwürfe nach Harun Farockis Spielregeln: Wir filmen bei der gleichen Hebammen-Ausbildung in Neukölln und drehen - wie er - einen Sceno-Test. Wir sind bei Polizei- und Bundeswehr-Übungen, Wahrnehmungstests und einer Striptease-Schulung dabei. Wir erkunden aber auch Kurs-Neuland, sehen ein verändertes Lebensdesign, andere Identitätsprojekte, neue Lebensreligionen. Unser Film wird kleinteiliger, es gibt fast doppelt so viele Seminare und Szenen. Während Farockis Film kaum ernsthafte Sachinformationen enthält, stellt sich bei uns mitunter ein Ratgeber- und Mitmach-Effekt ein. Es gibt forcierte Performances schon beim Erste-Hilfe-Kurs, angewandte Lerntheorie beim Schulwegtraining, einiges an „Kompetenztransport“ und ein gehöriges Maß an „Achtsamkeit“. Es fallen Sätze wie: „Da haben wir wieder etwas über unser Gehirn gelernt“ , „Ja, man muss auch ein bisschen an sich arbeiten im Leben“ oder „Du hast jetzt Werkzeuge, mit denen Du arbeiten kannst“. Die Beratungsmentalität hat alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdrungen. Wir sind umzingelt von Gebrauchsanleitungen und wissen immer weniger, wie das gehen soll - Leben.
In unserer westlichen Kultur gilt die Maxime, dass vom Tag der Geburt an jeder kontinuierlich an sich arbeiten, sich entwickeln, sich verbessern soll. Jeder ist ein Unternehmer seiner Selbst: Du musst Dein Leben ändern, positiv denken, fit bleiben und Dein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Was auf den ersten Blick wie eine private Entscheidung für das eigene Wohlergehen wirkt, dient längst dazu, den persönlichen Marktwert zu steigern. Forcierte Selbstsorge beschleunigt die Entsolidarisierung der Gesellschaft und bildet den Motor für das kapitalistische Wachstumsdogma. Wenn jeder für sich selbst verantwortlich ist, für seinen Erfolg oder Misserfolg, für Glück oder Unglück, dann gerät Selbstoptimierung zur Selbstausbeutung. Wir sind das Produkt geworden. Harun Farocki sah vor 25 Jahren diese gesellschaftliche Entwicklung und nahm konsequent den Dauer-Testbetrieb, den unser Leben darstellt, in den Blick: „Überall nimmt die Unanschaulichkeit der Lebens- und Arbeitsvorgänge zu, zugleich werden immer mehr Spiele gespielt, die offenbaren sollen, was in den Menschen verborgen liegt. Immer ungewisser die Regeln, nach denen zu leben sei, und immer mehr Spiele in denen das Leben wie ein Sport trainiert wird.“
So dokumentiert LEBEN - GEBRAUCHSANLEITUNG ein kulturelles Phänomen: das zeitgenössische Selbstverwirklichungsnarrativ und seine Praktiken. Die kann man je nach Geschmack „Lebenskünste“, „Technologien des Selbst“ oder „Psychopolitik“ nennen. Zugleich liegen bei dieser filmischen Versuchsanordnung die Bestandteile des Lebens wie in einem Baukasten hübsch nebeneinander, als ob sie nur darauf warten, neu kombiniert und bespielt zu werden: Könnte unser Leben - seine Elemente, Konstruktionen, Sinnmöglichkeiten - nicht auch ganz anders aussehen?
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