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Kritik “Making of Heimat” von Hartwig Tegeler Post2PDF

Hier können Sie den DVD-Tipp des Films “Making of Heimat” von Anja Pohl und Jörg Adolph in einem Betrag von Deutschlandradio Kultur nachhören: Link

Bei der Arbeit – Jörg Adolph über MAKING OF HEIMAT Post2PDF

Edgar Reitz steht im Gemeindesaal des Hunsrückdorfs Gehlweiler vor 80 neugierigen Bewohnern. In Gehlweiler finden sich die Schmiede und das Haus der Familie Simon aus dem weltberühmten HEIMAT-Zyklus. Nun soll hier in großem, historischen Stil wieder gedreht werden. Ein Modell zeigt, wie das Dorf im Jahre 1840 aussehen soll. Ob man dann nur noch mit Gummistiefeln auf die Straße gehen könne, will ein aufgeregter Bürger wissen? Edgar Reitz kann mit derlei praktischen Einwänden nicht gut umgehen. Er wirkt beleidigt, weil nicht alle im Dorf sogleich die Bedeutung seines Filmprojekts einsehen. Erst am Schluss der Versammlung hebt er an zu einem filmreifen Plädoyer: „Einen Film machen, ist ein Handwerk wie jedes andere auch. Jeder von ihnen weiß bei seiner Arbeit, ob er sie gut macht oder nicht. So geht es uns auch. Wir wollen einen guten Film machen. Und ich glaube, das ist etwas, das in unserer Zeit sehr selten vorkommt, dass man stolz sein kann, auf das was man gemacht hat. Wir könnten genauso gut ein Dorf auf einem Filmgelände bauen, wo alles anonym ist. Wir bauen es hier, an diesem Ort, wo wir unsere Wurzeln haben.“ Jetzt wird laut applaudiert.

In unserem Dokumentarfilm kommt dieses Plädoyer nicht vor. Es wirkte in der Montage zu pathetisch, zu abgeschlossen. Im Dokumentarfilm muss man die Dinge in der Schwebe halten, um Wirklichkeit erzählbar zu machen. Doch hier zeigen sich zentrale Merkmale der Persönlichkeit und der filmischen Handschrift von Edgar Reitz: Er kann ein Sturkopf mit dramatisierender Weltsicht sein, besessen von seinen Ideen. Und er schafft es in den wichtigen Momenten, die richtigen Worte zu finden, um Menschen zu begeistern. Er hat den höchsten Anspruch an das filmische Handwerk. Er sagt: „Film kann Heimat sein.“

In seinen Produktionstagebüchern hat Edgar Reitz oft von Unsicherheit und Sorgen während der Filmarbeit berichtet. Dem herkömmlichen, werblichen Making-of liegt aber nichts ferner, als der Zweifel an der Machbarkeit, der künstlerischen Vision, am Erfolg. Bei Reitz hört man dagegen eine radikale, befreiende Erkenntnis heraus: „Wir haben zwar alles getan um Risiken abzuwägen, aber nichts, was zu tun ist, kann sich auf Routine und sichere Rezepte gründen. Es ist eine lange Reise ins Ungewisse.“ Von dieser Reise kann nun unser Film erzählen.

Zum Filmemachen gehört zentral die finanzielle Situation einer Produktion. Und mit knapp acht Millionen Euro ist DIE ANDERE HEIMAT vergleichsweise nicht einmal üppig budgetiert. Trotzdem drängt sich mir am Set, während der Kran aufgebaut wird, ein Tagtraum auf: Wie viele Filme mit unserem aktuellen Budget könnte ich mit acht Millionen machen? Antwort: 40 Filme - mehr als ein Lebenswerk.

Beim Spielfilm muss alles groß sein - „bigger than life.“ Nur was viel kostet ist auch was wert. Schwere Geräte und Menschenmengen müssen bewegt werden, so definiert sich das Selbstbewusstsein der Branche. Edgar Reitz hat auf dem Podium zur 50-Jahr-Feier des Oberhausener Manifests dazu etwas Aufschlussreiches erzählt: „Ich habe vor ein paar Jahren mal die Idee entwickelt für zehn Filme für eine Millionen – alles zusammen. Damit bin ich zu fast allen Förderungsinstitutionen in Deutschland gegangen und habe überall nur das Signal bekommen, wenig Geld ist schwer zu kriegen. Wenn sie das Zehnfache haben wollen, können wir drüber reden. Das klingt völlig absurd. Aber es ist Konsens, dass mit einem gewissen Aufwand konzipierte Filme besser in das Geschäft und in die Landschaft passen, als kleine.“

Zurück zu meinem Tagtraum: Wenn nun die Filmförderungen weiter eigensinnige Filme wie den von Edgar Reitz unterstützen, aber mal einen kommerziellen Erfolgskracher auslassen würden, um dann mit diesem Geld initiativ zehn unabhängige, in künstlerischer Freiheit entstehende Dokumentarfilme zu ermöglichen… Eine kleine Verschiebung der Wirtschaftsförderung in Richtung Filmkultur könnte eine Aufbruch-Stimmung wie die nach Oberhausen erzeugen.

Bei über 100 Drehtagen kommt einiges zusammen. In der Montage arbeiten wir uns wochenlang am Weglassen von lieb gewonnenen Szenen ab, um aus dem Material einen stringenten Erzählfluss zu gestalten. Das folgende Gespräch ist eine (leider) entfallene Szene. Der Rohschnitt von DIE ANDERE HEIMAT wird vorgeführt. Günter Rohrbach, der Mentor des Films, zollt Edgar Reitz seinen Respekt: „Man muss ja sagen, in seinem Alter hat er nicht nur diesen Wahnsinns-Film gedreht, mit dieser Länge und diesem Aufwand, sondern er ist auch gleichzeitig immer im Schnitt gewesen. Also ich meine, welcher junge Regisseur schafft das?“ Der Co-Autor Gert Heidenreich ergänzt: „Ich habe ihn nach den Dreharbeiten gesehen, und ich dachte, was ist das für ein junger Mann?“ Darauf erklärt Edgar Reitz, dass es für diesen Vitalitätsschub nur eine Erklärung geben kann: „Artgerechte Haltung.“

Häuser für alle - Interview Post2PDF

Gereon Wetzel über seinen Dokumentarfilm zur spanischen Immobilienkris von Franziska von Malsen

Neu gebaute Ferienanlagen, die noch nie einen Urlauber gesehen haben, halbfertige Häuser, die langsam verfallen. Neue Straßen, die ins Brachland zu nie begonnenen Bauvorhaben führen… In seinem Dokumentarfilm Casas para todos (Häuser für alle) lässt der Münchner Filmemacher Gereon Wetzel das gigantische Ausmaß der spanischen Immobilienkrise sichtbar werden. 3,6 Millionen Wohneinheiten stehen in Spanien leer. Wetzels lange, kommentarlose Einstellungen erzählen auch von der Rückeroberung dieser Geisterstädte: Ein Schäfer lässt seine Herde auf den von Pflanzen überwucherten Baugebieten weiden. Auf einer sechsspurigen Ausfallstraße, die ins Nirgendwo führt, übt eine Busfahrschule spritsparendes Fahren. Und Immigranten besiedeln die Skelette nie fertig gestellter Hochhausbauten.

FM: Sie arbeiten mit langen kommentarlosen Einstellungen und erzählen fast ausschließlich visuell. Einzige Ausnahme sind einige Zitate spanischer Politiker und Bauunternehmer, die Sie als Titeltafeln einblenden. Sie erklären nichts in ihrem Film, suchen keine Gründe für die Krise, keinen Schuldigen und nennen keine Zahlen. Was versteht der Zuschauer besser über die Finanzkrise, wenn er Ihren Film sieht?

Wetzel: Ich glaube, der Film ergänzt die Auseinandersetzung mit der Krise auf eine Art, wie Sie es in der journalistischen Berichterstattung nicht finden. Die Unschärfe des Films im Bezug auf wirtschaftliche Fakten oder die geografischen Standorte der Bauprojekte ist kein Versehen, sondern bewusst gewählt. Mir geht es um ein universelles Bild für gesellschaftliches und menschliches Versagen. Um Habgier, Statussucht, Verführung, Realitätsverlust. Diese Dinge sind Teil von dem, was wir Spekulation nennen.

FM: Deshalb auch die Werbefilme der Bauunternehmen, mit denen Sie Ihre Aufnahmen der offen gelassenen Siedlungen an einigen Stellen unterschneiden?

Wetzel: Diese farbenfrohe Werbeästhetik, die ein “besseres Leben” verspricht - natürlich bekommt das eine absurde Komik, wenn man es gegenschneidet mit leer stehenden Häusern bis zum Horizont, verwaisten Spielplätzen und vertrockneten Golfanlagen. Aber es hat auch etwas Tragisches. Dass die Menschen dieser Idee vom schnellen Geld und eigentlich dem schlimmsten Tourismus, den man sich vorstellen kann, so verfallen sind. Und in diesem Wahn immer weitergemacht und nichts mehr mitbekommen haben.

FM: Liefern Sie damit nicht Argumente für Zuschauer, die dann sagen werden: “Schau Dir diese maßlosen Spanier an! Wie konnten die nur? Sollen die doch selbst sehen, wie sie ihre Misere jetzt lösen!”

Wetzel: Die Deutschen haben das ja mitfinanziert! Ohne die Unmengen billigen deutschen Geldes wäre das nie gebaut worden. Die Zusammenhänge sind kom-plex. Letztlich hätte auch die EU ein Auge darauf haben müssen - was jetzt auch geplant ist. Natürlich wird der Film Munition für solche Kommentare liefern. Aber er ist als universelle Geschichte angelegt und behauptet gerade nicht, das sei ein spanisches Problem.

FM: Herr Wetzel, auch Ihren letzten Film haben Sie in Spanien gedreht: El Bulli - Cooking in Progress porträtiert den weltberühmten Sternekoch Ferran Adrià. Warum jetzt das freudlose und trockene Thema Finanzkrise?

Gereon Wetzel: Ich finde nicht, dass die Finanzkrise ein trockenes Thema ist. Sie erscheint visuell im ersten Moment nicht so aufregend wie die Molekularküche von Adrià. Aber als Thema drängt sie sich auf, gerade in Spanien. Wenn man durch das Land fährt, stößt man überall auf diese leerstehenden Siedlungen. Wir haben versucht, die Immobilien- und letztlich die Finanzkrise in Bilder zu fassen. Die Ruinen sind ein Bild, das viel unmittelbarer wirkt als die Zahlen, die Sie dazu in der Zeitung lesen. Die Häuser, die da in der Landschaft stehen, haben Unmengen an menschlichen, finanziellen und natürlichen Ressourcen verbrannt.

FM: Warum ist der Film für ein deutsches Publikum relevant?

Wetzel: Weil das Thema universell ist. Weil es uns alle betrifft. Und ich meine das nicht nur, weil Spanien - getrieben von den faulen Immobilienkrediten - unter den Europäischen Rettungsschirm geschlüpft ist. Der Film ist nicht als eine rein spanische Geschichte gedacht. In Irland und China passiert Ähnliches und ich glaube, dass es auch in München eine Spekulationsblase gibt. Und auf dem Land in Deutschland verrotten auch Häuser.

FM: Aber ist ein solcher Film dann nicht ein problematischer Beitrag an ein Publikum, das die Zusammenhänge eben noch nicht verstanden hat?

Wetzel: Aber was wissen die Leuten denn, wenn Sie es ihnen erklären? Und was und wie erklären Sie es denn? Vielleicht - das hoffe ich - stoßen die Bilder meines Films einen universelleren Denkansatz an, als es ein Artikel aus dem Wirtschaftsteil der Tageszeitung vermag. Oder nehmen wir den Wagenhofer-Film Let’s Make Money als Gegenbeispiel zu meinem. Darin kommt auch die spanische Immobilienkrise vor. Der Film ist mit Kommentar und mit Interviews und man versteht trotzdem nichts. Und da kann genauso der Eindruck entstehen: Gott, sind die alle bescheuert, da unten. Man wird nie ein klares Bild zeichnen können, von dem, was da passiert ist. Auch im Journalismus nicht. Daran glaube ich einfach nicht. Weil der Zuschauer oder Leser es sich in seinem Kopf ohnehin völlig anders und neu und mit seinen Ressentiments zusammensetzt. Deshalb finde ich die offene Form, mit der man die Eigeninitiative des Zuschauers fordert, viel besser. Ohne die funktioniert es eh nicht.

FM: Im Presseheft zum Film beziehen Sie sich in Ihrer Arbeitsweise auf den Quantenphysiker Hans-Peter Dürr. Was haben die Überlegungen eines Quanten-physikers mit Dokumentarfilm zu tun?

Wetzel: Dürr sagt, wir verlangen bei unserer Wahrheitsfindung, dass sie zu eindeutigen Feststellungen führt. In diesem Wunsch übersehen wir, dass die Struktur unserer Wirklichkeit so komplex ist, dass Eindeutigkeit, Exaktheit und Schärfe nur durch Isolation des herausgegriffenen Sachverhalts erreicht werden können. Relevanz und Bedeutsamkeit werden aber erst sichtbar, wenn ich meinen Blick nicht auf ein Detail konzentriere, sondern ihn weite. Und das ganze Bedeutungs- oder Assoziationsfeld des Sachverhalts in meine Betrachtung einbeziehe. Und dieser Einsicht, sagt Dürr, entspricht eher eine poetische Betrachtung. Das ist es, was ich mit meinem Film versuche: eine poetische Betrachtung, die trotz oder gerade wegen ihrer Unschärfe Zusammenhänge erkennbar werden lässt.

Casas para todos - Häuser für alle Post2PDF

Ein paar Gedanken von Gereon Wetzel

„Studieren wir die Geschichte der Völker, so finden wir, dass sie genauso ihre Grillen und Eigenheiten haben wie Individuen. Wie diese durchleben sie Phasen der Erregung und der Unbesonnenheit. Ganze Staaten leben plötzlich nur noch auf ein Ziel hin und werden bei dessen Verfolgung schier verrückt; Millionen von Menschen sind gleichzeitig von einer und derselben Wahnidee besessen und laufen ihr so lange nach, bis eine neue Narretei noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht“.

Soweit das Vorwort von Charles Mackay aus seinem 1852 erschienenem Buch „Zeichen und Wunder - Aus den Annalen des Wahns“, das am Ende meines Films steht. In „Extra­ordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds“, so der schöne Originaltitel,  geht er den bis dahin bekannten Spekulations­blasen nach, Verirrungen mit so selt­samen Namen wie Tulipomania oder South Sea Bubble. Wie hätte er wohl die große spanische Immobilien­blase genannt: Vielleicht Casas para todos - Häuser für alle?
In einem verwüsteten Verkaufsbüro der insolventen „Grupo Trampolín“ entdecken wir diesen Slogan, in Klebe­buchstaben an die völlig zersplitterte Scheibe geheftet, aus der man gerade noch die vier ramponierten Musterhäuser gegenüber erkennt: HÄUSER FÜR ALLE, das klingt so wie Freibier für alle. Man muss nur zugreifen, ein Kreditgeber ist schnell gefunden. Aber es sind nicht nur Häuser für jeden, jeden Geldbeutel, jedes soziale Gefüge, sondern vor allem: Es sind genug für alle da, für alle, die schon immer mit der Idee geliebäugelt haben, ein Eigenheim zu besitzen. Im Jahr 2000 begann unter der Regierung José María Aznars ein beispielloser Bauboom, der sich am Ende der Dekade und der beginnenden Finanzkrise in Zahlen so darstellte: 3,6 Millonen Wohnungen - fertig, halbfertig, erschlossen, projektiert. Ohne Zukunft.
Wie soll man dem filmisch begegnen? Ist nicht eigentlich schon alles zur Krise gesagt? Eine schnöde Blase, wie alle anderen vor ihr auch. Zyklisch alle 25 Jahre wie John Kenneth Galbraith in „Eine kurze Geschichte der Spekulation“ anmerkt, solange bis das kollektive Gedächtnis wieder gelöscht zu sein scheint. „Spain is different“ war der Slogan der Franco Diktatur und natürlich sind die Voraussetz­ungen in jedem Land anders, gerade in Spanien, ein von bitterer Armut geprägter aufstrebender Staat, in dem naturgemäß nichts so wichtig ist, wie das Erlangen eines besseren Status. Wer könnte es ihnen verdenken und wer würde nicht auch zuerst zu den festen Werten greifen, zur unverrückbaren Immobilie, dem Inbegriff von Sicherheit? Und dennoch scheinen die Parameter dieser Blase austauschbar: Gier, Verführung, Realitäts­verlust, Massenhysterie. Davon handelt mein Film.

Mein Kollege Raúl Fernandez und ich reisten umher von einer Ruinenstadt zur nächsten Geistersiedlung, auf der grünen Wiese und im städtischen Ballungs­raum. Wir ließen die große kulturelle Vielfalt Spaniens links liegen und fragten an jeder Ecke Einheimische nach dem aussichtslosesten Bauvorhaben der Region. Und es gibt viele und jedes hat seine Geschichte, eine komplexe und universelle zugleich. Mich erinnerte unsere Arbeit immer an eine archäologische Prospektion. Beim sogenannten „Survey“ geht der Archäologe in fest abgesteckten Bahnen über einen Acker und sammelt alles auf, was er oberflächlich in die Finger bekommt. Zunächst eine nüchterne Bestandsaufnahme, ein Akt der leidenschaftslosen Sammlung von Beweisen. Später im Labor liegen dann neolithische Steinbeile neben neuzeitlichen Ton­krügen, alles hochgewühlt und vermischt durch den Tiefpflug. Die Aussagen, die sich treffen lassen, sind im Detail vage und unscharf, aber im Ganzen von großer Tragweite und Aussagekraft: Die Geschichte eines Ortes, seiner Besiedlung und seines Untergangs.
Breite ich meine Filmaufnahmen ebenso nebeneinander aus, finde ich dort die unterschiedlichsten Schicksale von Orten und Menschen. Alle Orte verbindet ihre Nutzlosigkeit, temporär oder für immer. Sie werden zu Unorten, dem reinen Verbrauch von Fläche, einem radikalen Verwer­tungs­interesse untergeordneten, fast geschicht­slosen Boden. Innerhalb dieses Rahmens suchten wir nach Bedeutung, ein Trotzen gegen die Leere, die fehlende Geschichte. Wir finden ein Biotop, in dem sich die Natur unbeirrt ihre Daseinsberechtigung zurückerobert oder Menschen, die just nach einem solchen Ort mit genau diesen Eigenschaften gesucht haben, wie etwa die Busfahrschule, die die breiten Straßen und den fehlenden Verkehr als Parcours zum Erlernen einer ökonomischen Fahrweise nutzt. Diese Menschen bespielen die Orte, sie lassen mit ihrer Präsenz die Leere erst richtig leer wirken und weisen ihr neue Bedeutungen zu. Die Filmmontage spürt dem nach. Weit von einander entfernte Orte werden verbunden, mal über die reine Assoziation, mal über eine thema­tische Engführung, mal über Klang und Farbe, aber immer im Sinne eines Gesamtbogens. Oder es werden verschiedene Materialien und Fragmente ineinandergefügt: die grellen und lauten Werbefilme, statische und zentral­perspektivische Architekturaufnahmen, Dokumentar­isches, Hand- und Stativkamera, Musikteile von Josef Mayerhofer, Tondokumente aus Interviews und Reden sowie Texttafeln. Ganz in der Gestalt einer Collage: fragment­artig, semantisch deplatziert und dekontextualisiert, wie die Tonspur der Website einer Baufirma über den Bildern eines Systems aus leeren Straßen.
„Eine Hypothek beruht auf einem realen Besitz und hat immer einen objektiven Wert. Es gibt Sachen, die kosten heute 100 und morgen nur noch 50 - aber es ist dein Haus, das hat immer einen Wert.“

Eine fatale Überlegung, die der Banker Isidre Fainé, immerhin Präsident der CaixaBank, einer der größten Banken Spaniens noch 2011 anstellte. Dieser Gedanke stand wohl am Anfang dieser letzten und noch andauernden Finanz- und Wirtschaftskrise und riss unzählige Privatleute, aber auch Unternehmen aus aller Welt in den Abgrund. Später im Film sieht man, wie die Wohnungen aus dem gewaltigen Bauprojekt „Seseña“ des Baulöwen Francisco Hernando (alias Paco El Pocero, übersetzt „Der Kanalbauer“) um 60% verbilligt auf den Markt geworfen werden. Dieser äußerte sich 2008 in einer Talkshow standesgemäß und erntete für diese Einlassung tosenden Applaus:

„In drei Monaten beende ich die Arbeitslosigkeit in meinem Land.
- Und wie?
Wie? Alles zu Bauland erklären - und zwar schon morgen!“

Fünf schwarze Tafeln mit weißer Schrift und den Zitaten von Politikern und Bankern aus ganz unterschiedlichen Phasen des Baubooms tauchen im Film auf. Sie sind keineswegs als Überschriften zu ver­stehen, sondern entfalten ihre Wirkung zusammen mit den Bildern und Geschichten des Films. Vielmehr als der Versuch einer Erklärung loten sie Stimmungslagen aus, zeigen politisches Kalkül und die billigen Ausflüchte einer poli­tischen und wirtschaftlichen Elite. Die Verführer finden so zu ihren Opfern, wie der zitierte Banker zu jener An­gestellten aus dem besetzten Haus, die ihre Raten für die 200.000 Euro teure Eigentumswohnung nicht mehr be­­dienen konnte. Sie schloss sich der politischen Bewegung 15M, der spanischen Variante der Occupy-Bewegung an, die in Sevilla einen leeren Neubau in Besitz hält und 26 obdachlose Familien dort unterbrachte. Erst auf den zweiten Blick macht man sich vielleicht Gedanken darüber, welche Versprechungen und Überlegungen vorausgegangen sein mögen, dass die Angestellte eines Pflegeheims sich ein solches Objekt glaubte leisten zu können.
Alles ist komplex und vielschichtig, nichts einfach erklärbar, sondern wirkt lediglich zusammen. Es entsteht ein unscharfes Bild und doch ist es genau dies, welches der Realität meiner Auffassung nach am nächsten kommt. Hans Peter Dürr, der Quantenphysiker, setzt sich in seinem Buch „Das Lebende lebendiger werden lassen“ mit dem Unterschied der naturwissenschaftlichen und der poetischen Betrachtungsweise auseinander. Dort heißt es:

“Wir verlangen bei unserer Wahrheitsfindung, dass sie zu eindeutigen Feststellungen führt. Wir übersehen dabei, dass aufgrund der komplexen Struktur unserer Wirklichkeit Eindeutigkeit, Exaktheit, Schärfe eigentlich nur mit Isolation des herausgegriffenen Sachverhalts erreicht werden kann. Isolation bedeutet notwendig eine Lostrennung vom kausalen Umfeld, eine Durchschneidung von Beziehungen zur Umgebung.“

Und weiter:

„Relevanz, Bedeutsamkeit eines Sachverhaltes wird nur sichtbar, wenn ich meinen Blick nicht auf ein Detail konzentriere oder ein Detail herausgreife, sondern vielmehr das ganze Bedeutungs- oder Assoziations­feld des Sachverhaltes mit in meine Betrachtung ein­beziehe. Dies entspricht aber mehr einer poetischen Betrachtung. Mit der Preisgabe der Schärfe, der geringeren Beachtung des isolierten Details kommt in gleichem Maße die Gestalt, die Beziehungsstruktur besser zum Ausdruck. Hier liegt die Betonung nicht mehr auf einer Beschreibung der einzelnen Objekte, sondern auf deren Einbettung in einen größeren Zusammenhang, gewissermaßen auf die Landschaft oder Topologie, in der sie vorkommt“.

Ich erkenne in diesen Sätzen viele Grundpfeiler meines dokumenta­rischen Arbeitens wieder. Dokumentarfilm als Träger von linear visualisierten Informationen in didaktischer Gestalt bedeutet für mich in Dürrs Sinne das Einbüßen des Erzählens und die Verweigerung, die Wirklichkeit als ein kompliziertes System von unendlich vielen Objekten, die miteinander in Beziehung stehen, zu begreifen. Wenn Poesie also heißt, Bilder und Klänge rhythmisch zu etwas Ganzem, Beziehungs­reichem und Unscharfem zusammenzufügen, dann kann man diesen Film als Gedicht lesen.

Ein Kunststück Post2PDF

von Manfred Riepe

Interessante Geschichten werden im Dokumentarfilm häufig erzählt. Der Eindruck, dass die Beobachtungen auch im wahren Sinn des Wortes „sehenswert“ sind, entsteht dabei eher selten. In ihrem grandiosen Verlegerporträt gelingt Jörg Adolph und Gereon Wetzel dieses Kunststück. „How to Make a Book with Steidl“ ist ein Film, der den Zuschauer schon nach wenigen Momenten durch seine Bilder gefangen nimmt.
Dabei ist das Thema offenbar recht unscheinbar. Im Stil des Direct Cinema, also ohne Off-Kommentar und ohne Interviews mit dem Protagonisten, blicken die beiden Dokumentaristen einem Göttinger Buchdrucker bei der Arbeit über die Schulter. Doch Gerhard Steidl, um den es hier geht, ist nicht irgendein Hersteller von Druckerzeugnissen. Seit 40 Jahren publiziert der Verleger, der am 22. November seinen 60. Geburtstag feiert, dem man sein Alter aber nicht ansieht, qualitative hochwertige und aufwändig hergestellte Bücher, viele davon im Kunstsektor. In der Zeit des Internets und des Eletronic Publishing hat Steidl sich den Ruf als exklusiver Kunsthandwerker erhalten.
Kunst ist bekanntlich schön und macht viel Arbeit. Während das wirtschaftliche Fundament seines Verlags unter anderem durch die Exklusivrechte an Büchern von Günter Grass abgesichert ist, jettet Gerhard Steidl buchstäblich durch die Welt. Mit namhaften Künstlern wie Robert Frank, Ed Ruscha, Robert Adams und Jeff Wall bespricht er technische Details über die Herstellung von Fotobänden – von deren Verkauf allein er gewiss nicht leben könnte.
Für den Film ist die Vorliebe des Verlegers für hochwertige Bildbände von Künstlern, die auf der ganzen Welt verstreut leben, ein Glücksfall. Während Steidl in New York und Los Angeles zu Gast bei Freunden ist, gelingen Adolph und Wetzel faszinierende Bilder von Landschaften, urbanen Situationen, Künstlern und deren Lebensentwürfen. Ein reich gewordener Beduine residiert in der Wüste von Katar in einem Luxuswohnwagen. Die Kamera wechselt von der Innenansicht nach draußen, wo sich in der nächtlichen Wüste das Knattern des Stromaggregats mit dem Blöken der Kamele mischt, die unter Decken kauern.
Zusammengehalten wird das schillernde Mosaik der Bilder durch Steidl selbst, der wie ein Maschinengewehr spricht und als nimmermüder Workalholic mehrere Termine täglich absolviert. Da er unter anderem für die Haute Couture tätig ist, macht der Film auch einen Abstecher nach Paris. Hier parliert der Göttinger Buchdrucker nebenbei mit Karl Lagerfeld, für den er von der Eintrittskarte bis zum Katalog alles druckt.
Sehenswert arbeitet der eineinhalbstündige Film heraus, dass Steidl ein akribischer Kunsthandwerker ist, der seine Profession mit kaum beschreibbarer Leidenschaft beherrscht. Dank dieser Passion erscheint fast alles, was er macht, irgendwie interessant. Man schaut gerne zu, selbst wenn er sich nur die Brusttasche seines weißen Kittels mit ausgelaufener Kugelschreiberflüssigkeit befleckt. Die Grenze zwischen Handwerk und kreativem Prozess wird dabei fließend. Das ungewöhnliche Wechselspiel zwischen Geben und Nehmen zeigt der Film exemplarisch am Beispiel eines amerikanischen Künstlers. Der Fotograf Joel Sternfeld konzipiert einen Bildband, mit dem er die visuelle Konsumierbarkeit der Welt kritisieren will, wie sie durch jene Form der Instant-Fotografie durch das iPhone ermöglicht wird. Damit die Gestaltung seines Buchs diese Botschaft aufgreift, müssen Sternfeld und Steidl einen intensiven ästhetisch-technischen Austausch pflegen, dessen Details der Zuschauer des Films von Anfang bis Ende mitverfolgt. Das fertige Buch ist schließlich ein Produkt, in das Steidls kreative Handwerklichkeit maßgeblich eingeflossen ist.
Über diese Schnittstelle zwischen Kreativität und Buchproduktion hat Jörg Adolph schon einmal einen Film realisiert. Nach „Houwelandt – Ein Roman entsteht“ (vgl. FK 38/05) über den Autor John von Düffel gelingt ihm nun zusammen mit Gereon Wetzel, bekannt durch „Castells, lebende Türme“ (vgl. FK 30/07), das Porträt der katalanischen Turmbauer, ein faszinierend lebendiges Werk. „How to Make a Book with Steidl“ ist ein Film, den man eigentlich auf der großen Leinwand sehen müsste. Wenn der agile schwarzhaarige Mann zunächst mit der Schieblehre die Dicke eines Papierstoßes misst und kurz darauf mit dem Taxi durch New York fährt, dann erreicht der Film nicht nur hier Kinoformat. Einige der Bilder zwischen Flughafen, Hotel und Hochbahn sind elektronisch bearbeitet, doch diese dezente Verfremdung drängt sich nicht in den Vordergrund.
Überzeugend ist auch die Montage, die hektische, geschäftige Sequenzen auf ruhige, kontemplative Momente folgen lässt, etwa wenn Günter Grass eigenhändig den Bucheinband für die Jubiläumsausgabe „50 Jahre Blechtrommel“ gestaltet. Der Film hätte noch Stunden so weitergehen können.

veröffentlicht in FK 45/2010

Zukunft des Dokumentarfilms Post2PDF

Vortrag von Andres Veiel anlässlich des Branchentreffs Dokumentarfilm “Dokville” 2011

Die Zukunft des Dokumentarfilms ist nicht denkbar ohne seine gegenwärtigen Widersprüche: Wir haben eine ungeheuer vielfältige, junge Dokumentarfilmszene, immer mehr Filme werden produziert, 80 bis 100 lange Dokumentarfilme kommen jährlich ins Kino.
Wir haben im internationalen Vergleich die besten Ausbildungsstätten für den filmischen Nachwuchs – und interessieren uns gleichzeitig so wenig für eine kontinuierliche Förderung der Talente nach Abschluss der Ausbildung.
Jährlich strömen etwa 500 Absolventen von Filmhochschulen oder Universitäten mit einem  praktischen Ausbildungszweig auf den Markt. Davon möchten etwa 150 bis 200 im dokumentarischen Bereich arbeiten. Angesichts der wenigen Sendeplätze und begrenzten Fördermittel heißt es, dass hier am Bedarf vorbei ausgebildet wird. Das ist falsch. Es gibt einen gesellschaftlichen Bedarf an guten Filmen, die sich mit Wirklichkeit beschäftigen.
Warum es in Zukunft weniger davon geben wird, hat entscheidend mit den Produktionsbedingungen zu tun – und damit, wie mit den jungen Talenten umgegangen wird.
Die Rolle des Fernsehens hat sich bei der Finanzierung von Dokumentarfilmen schleichend verändert: Die Budgets haben sich – Inflation eingerechnet - in den letzten Jahren deutlich reduziert.
Meine ersten drei Kinodokumentarfilme habe ich Anfang / Mitte der 90er Jahre bei der Redaktion Schauspiel des ZDF gemacht, alle waren Kino-Koproduktionen, die Redaktion  engagierte sich pro Film mit etwa 400.000 DM, mit Filmförderung kamen wir auf 600.000 DM bis 700.000 DM, nach heutigem Stand sind diese Beträge etwa mit Euro gleichzusetzen. Mit diesen Budgets konnten die Filme fundiert recherchiert, vorbereitet und mit dem notwendigen Zeitbudget gedreht und geschnitten werden. Die Qualität der Ergebnisse hatte wesentlich mit diesen Produktionsbedingungen zu tun.
1998 wurde die Redaktion Schauspiel im ZDF-Hauptprogramm aufgelöst, der Etat wanderte – was die dokumentarischen Formate angeht – zur Redaktion des Theaterkanals. Das bedeutete für die Produktionen ähnlicher Länge, mit einem Bruchteil des Geldes klar kommen zu müssen. Das Beispiel steht für viele andere.
Es gibt einige wenige Dokumentarfilmer meiner Generation, die sich – trotz dieser Einschränkungen -  in der öffentlichen Wahrnehmung etablieren konnten. Dazu gehören Regisseure wie Thomas Heise, Stefan Schwietert, Volker Koepp, Christoph Hübner, Thomas Riedelsheimer oder Heidi Specogna, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit Dokumentarfilme fürs Kino produzieren. Dazu gehören auch Kollegen wie Wim Wenders oder Pepe Danquart, die mit ihrer Erfahrung als Spielfilmregisseur den Dokumentarfilm mit innovativer Kraft neu positionieren. Sie alle haben das Privileg, aufgrund ihrer Bekanntheit mit größeren Budgets arbeiten zu können, sie konnten etwas ausprobieren, ins Risiko gehen, es gab und gibt Redakteure, die ihnen diesen Raum gegeben haben und zum Teil immer noch geben. In 20 Jahren wird es von diesen Kollegen vielleicht noch das eine oder andere Alterswerk geben. Wer rückt nach, wer wird dieses Erbe übernehmen?
Ich unterrichte inzwischen fast 15 Jahre an Filmhochschulen. Nur eine verschwindend geringe Prozentzahl von denen, die nach dem Studium mit einem Dokumentarfilmprojekt gestartet sind, finanziert durch das kleine Fernsehspiel oder über die Reihe „Junger Dokumentarfilm“ des SWR -  sind dem Metier treu geblieben. Einige waren mit ihren Filmen durchaus erfolgreich, sie wurden bei Festivals ausgezeichnet, hatten sogar an der Kinokasse respektable Ergebnisse und bei der Ausstrahlung eine gute Quote. Dennoch geben die meisten danach auf. Sie arbeiten in anderen, verwandten Medienberufen, wechseln zum Spielfilm, unterrichten.
Es ist keineswegs so, dass sie keine Dokumentarfilme mehr machen wollten. Fast jeder erzählt mir von dem einen oder anderen Projekt, an dem er oder sie weiter arbeiten wollte, dessen Herstellung sich aber über Jahre hinzog. Sie hatten das Interesse einer Förderung, doch die Bedingung für einen Zuwendungsbescheid war die Beteilung eines TV-Senders. Ein Sender hatte Interesse, doch nur, wenn ein zweiter dazukommt. Doch der zweite sagte nach einer einjährigen Entscheidungsphase ab, damit war auch die bedingte Zusage des ersten Senders hinfällig. Nach zwei Jahren entschieden sich die Macher für eine „freie“ Produktion. Sie arbeiteten am Wochenende, im Urlaub, nach Feierabend. Sie drehten und schnitten selbst und waren froh, den Film nach vier Jahren fertig stellen und schließlich für 12.000 Euro an einen Spartensender verkaufen zu können.
Damit bezahlten sie das Grading, die Mischung und den Cutter. Das, so sagen sie, können wir uns kein zweites Mal leisten.
Warum gibt es keine Kontinuität beim Aufbau von Regisseuren im dokumentarischen Bereich?
Exemplarisch deutlich wird diese Situation beim ZDF. Das Kleine Fernsehspiel baut gezielt Nachwuchsregisseure im Bereich des künstlerischen Dokumentarfilms auf.  Nach der dritten Produktion muss die Redaktion die Talente mit Bedauern sich selbst überlassen, da es im Hauptprogramm keine Sendeplätze für den langen Dokumentarfilm gibt. Die ratlosen Regisseure bekommen dann den Tipp,  vielleicht mal einen Spielfilm zu machen. Oder es ab jetzt doch bitte bei einem der Spartenkanäle zu versuchen - mit wesentlich geringeren Budgets.
Zu dieser Misere kommt noch eine andere.
Erfolgreiche Dokumentarfilme werden über das Thema wahrgenommen, nicht aber über den Regisseur oder die Regisseurin. Haben die Filmemacher ein neues Projekt mit einem Thema, was nicht die gleiche Durchschlagskraft zu haben scheint wie der  erste Erfolgsfilm, müssen sie sich genau wie alle anderen bei den Sendern und Förderern in die lange Schlange der finanziellen Bittsteller anstellen. Es sei denn, sie haben das Glück, an einen Produzenten mit einem guten Standing zu geraten, dem es durch internationale Vernetzung gelingt, ein größeres Budget zu organisieren.
Diese Entwicklung ist nicht zufällig, sie findet eine kausale Begründung in den Erfordernissen der formatierten Dokumentarprojekte, die in den letzten zehn Jahren die TV- Programme dominiert haben.
Darin ist weniger die künstlerische Persönlichkeit der Filmemacher gefragt, als die handwerkliche Fähigkeit, vorgegebene Formate und Module zu füllen, die von Producern und Redakteuren entwickelt wurden. Gesucht wird eben genau nicht der Regisseur, der über Jahre seine Handschrift entwickelt hat. Im Gegenteil, je eigenwilliger, spezifizierter die Handschrift, desto mehr entsteht aus der Sicht der Redaktion die Gefahr, dass die vorgefertigten Formatmodule nicht maßstabsgetreu abgeliefert werden.
Wer überleben will in der Branche, passt sich an, liefert gutes Handwerk ab -  zum Teil durchaus mit Qualität und Erfolg. Aber das, was die jungen Macher auszeichnet – ungestüme Neugierde, formale Unberechenbarkeit – für all das interessiert sich niemand mehr.
Man muss es einmal so drastisch sagen:
Dieses Land leistet es sich, seine besten Talente auf dem Gebiet des künstlerischen Dokumentarfilms zunächst aufzubauen, um sie dann systematisch verkümmern zu lassen.
Die Menge der produzierten Dokumentarfilme wuchert dieses drastische Defizit scheinbar zu. Erst bei genauerem Hinsehen wird offensichtlich, wie wenige Filme es gerade unter jungen Dokfilmern gibt, die formal oder inhaltlich ins Risiko gehen, Neuland betreten, ihre Geschichten filmisch anders, unerwartet erzählen. Unter den Bedingungen, unter denen sie entstehen, kann sich niemand eine ausgiebige Recherche leisten. Es gibt kaum Filme, die sich mit den eigentlichen Krisen und den Machtverhältnissen des Landes auseinandersetzen, weder gegenwärtig noch historisch. Das ist den Machern nicht vorzuwerfen, sie können unter den gegebenen Produktionsbedingungen sich nicht auch noch in juristische Gefahrenzonen hinein begeben.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die meisten der 80 Dokumentarfilme kaum mehr als 3000 Zuschauer im Kino erreichen. Der Zuschauer erwartet einen ästhetischen und inhaltlichen Mehrwert. Wenn er den nicht geboten bekommt, bleibt er zu Hause.
Das ist einer der Gründe, warum der Dokumentarfilm in die Krise kommen wird – und das nicht erst in 20 Jahren. Wenn dieses Genre sich aus sich heraus nicht immer wieder erneuert, wird es langfristig als dokumentarische Kunstform aussterben.
Diese Entwicklung ist deshalb dramatisch, weil sie sich mit einer weiteren verstärkt.
Das Publikum für Dokumentarfilme wird immer älter – das betrifft das Fernsehen wie das Kino. In den in die Jahre gekommenen Programmkinos ist der Trend offensichtlich: Das Publikum besteht vorwiegend aus denjenigen, die als Jugendliche in die neu gegründeten Programmkinos pilgerten – und den Häusern auch im fortgeschrittenen Alter die Treue hält. Die Spätschienen wurden in den meisten Kinos längst abgebaut. Dokumentarfilme laufen auf den Frühabend- oder sogar den Nachmittagsschienen oftmals schon erfolgreicher als auf der Abendschiene.
Insgesamt gehen deshalb (noch)  nicht weniger Menschen ins Kino.
Aber auch das wird sich langfristig verändern. Die Generation von Zuschauern, die mit den Programmkinos groß geworden ist, wird altershalber dem Kino fern bleiben.  Vielleicht wird das eine oder andere Programmkino erhalten bleiben – als Altenclub der Caritas.
Diese Entwicklung ist zu spät erkannt worden. Sie hat – neben der erwähnten mangelnden Qualität - auch eine natürliche Ursache. Als Jugendlicher geht man nicht in das Kino, von dem die eigenen Eltern schwärmen, sich dort zum ersten Mal geküsst zu haben. Dass die nachfolgende Generation wegbleibt, ist von daher gesehen nahe liegend. Umso wichtiger ist es, die Enkelgeneration in die Programmkinos zurück zu holen. Sonst stirbt dieses Kino – und mit ihnen eine Filmkultur, für die wir einstehen.
Und die in den nächsten 20 Jahren noch wichtiger wird als bisher. Das Fernsehen wird endgültig seine Vormacht, Bilder zu produzieren und zu verbreiten, an das Internet abgeben.
Der barrierefreie Zugang zu den technischen Mitteln einschließlich des Schnitts und der Verbreitung über das Netz, wird immer mehr Menschen dazu bringen, ihren Alltag abzubilden und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Mit der Bilder – und  Informationsflut wird damit die Sehnsucht nach Struktur, nach Auswahl und Übersicht zunehmen.
Und damit die Notwendigkeit eines Kurators, der nicht nur das verbreitet, was ohnehin existiert, sondern auswählt, fördert, Akzente setzt und damit nicht nur abgebildete Phänomene verbreitet, sondern Kontexte herstellt, Gewordenheiten sichtbar macht, indem hinter den Oberflächenreiz der Dinge geschaut, ihre Geschichtlichkeit herausgearbeitet wird.
Das Kuratieren von Filmen, die sich vom Strom der Bilderflut abheben, die ihn strukturieren, verdichten, vertiefen… das wird eine der Hauptaufgaben des Fernsehen sein, will es sich nicht selbst abschaffen.
Und damit wird, verzeihen Sie meinen Optimismus, das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus eigenem Überlebensinteresse gar nicht darum herumkommen, den Dokumentarfilm nicht nur als Albiaushängeschild im Programm zu halten.
Die Anstalten fühlen sich – nach der Herausforderung durch die privaten Kanäle -  zusätzlich unter Druck:  durch die Popularität des munteren Trashs bei Youtube und durch die Schnelligkeit der Informationsverbreitung bei Twitter und Facebook. Die Sender haben das Privileg bei der Herstellung und Verbreitung der Bilder längst verloren, das ist ein traumatischer Verlust, der in seiner Tragweite noch nicht angekommen, geschweige denn verarbeitet worden ist.
Die öffentlich-rechtlichen Sender werden endgültig ihren Status als  Leitmedium verlieren, wenn sie sich nicht wieder auf ihre Kernkompetenz besinnen, und das ist der Bildungsauftrag.  Und das heißt nichts anderes, als Informationen nicht nur aktuell anzuliefern und aufzubereiten, um sie dann allabendlich in Talkshows wortreich wieder verdunsten zu lassen. Sondern Kontexte herzustellen – und  dazu braucht es  den Dokumentarfilm, die Reportage und auch die kürzeren Formen als essentieller und täglicher Programmbestandteil.
Das Genre wird in der Zukunft für ein demokratisches Gemeinwesen notwendiger denn je  sein –  als kulturelles Gedächtnis, als Instrumentarium, eine komplexe Wirklichkeit neu und in einem anderen Kontext zu betrachten, als Rastplatz der Reflektion – und damit als Sauerstoff einer Gesellschaft, die sich angesichts eines Terrors der informativen Verfügbarkeit  immer mehr das Innehalten, die Reflektion, die Selbstvergewisserung leisten muss.
Umso  wichtiger ist es, der langfristigen Gefährdung des Dokumentarfilms durch mangelnde Unterstützung  des Nachwuchses, dem Verlust des jüngeren Publikums sowie der fortdauernden Ignoranz seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht nur mit Appellen entgegenzutreten.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird für die langfristige Bewahrung des Genres nicht durch plötzliche Einsicht in den Führungsetagen Verantwortung übernehmen, sondern durch politischen Druck von außen. Der muss von uns, von unseren Verbänden, in den nächsten Jahren systematisch aufgebaut und verstärkt werden. Erste zarte Erfolge um den (teilweisen) Erhalt der Sendeplätze für Reportagen oder der Umverteilung von Etats beim WDR zeigen, dass Interventionen der Politik nicht immer wirkungslos verpuffen müssen. Entscheidend für durchgreifende Verbesserungen ist das sogenannte Schraubstockverfahren: Neben dem Außendruck müssen wir die Verbündeten in den Anstalten unterstützen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, denen aber (noch) die Hände gebunden sind.
Der Dokfilm kann nicht aus sich selbst heraus überleben. Jenseits aller spontanen Schnellschüsse braucht er die Subvention der Sender und der Filmförderungen. Das wird in 20 Jahren genauso sein wie heute.
Die nötigen Finanzmittel für eine notwendige Wertschätzung und Anerkennung des Kulturgutes Dokumentarfilm sind in den Anstalten vorhanden. Das Geld muss nur umverteilt werden. Und das muss politisch gewollt und durchgesetzt werden.
Die zunehmende Verschmelzung von Netz und TV hat dabei durchaus positive Effekte: Die Frage der Abschiebung von Dokumentarfilmen ins Spätprogramm wird sich in wenigen Jahren erledigt haben, der Zuschauer wird sich die Sendungen, die im Angebot sind, in eigener Reihenfolge zusammenstellen. Das wird eine Chance sein, wieder mehr Zuschauer an komplexere Darstellungsformen heranzuführen.

Dass das im richtigen Rahmen funktioniert, zeigen bereits andere kuratierte Abspielorte, die Festivals. Sie boomen was ihre Anzahl angeht wie auch den Zuspruch der Zuschauer. Die Festivals leisten in der Flut des Angebots eine Auswahl  - und schaffen damit einen Vertrauensvorschuss für den einzelnen Film. Und ihnen gelingt etwas, was dem Fernsehen und den Kinos mit ihren Einzelvorstellungen verloren gegangen ist: Sie holen ein Publikum, das bei RTL2 und youtube filmisch sozialisiert wurde, ins Kino zurück….
Will man diese Zuschauergruppe auch für die Einzelvorstellung im Kino oder im TV wieder interessieren, braucht es zusätzliche Anreize: Games, die einen spielerischen Umgang mit der Thematik ermöglichen, Blogs, die Alltagsbezüge herstellen. Und eine Medienpädagogik, die das Genre in den Unterricht einbringt, das Kino in die Schulen holt und die Schulen in die Kinos.
Es wird immer wichtiger, Filme nicht nur einfach zu zeigen. Die Beliebtheit von Festivals zeugen auch von einem Hunger nach Kontext – der Einbeziehung der Macher, dem Aufzeigen von Trends, der Vertiefung der Thematik durch Debatten und Diskussionen.
Aber auch das perfekt inszenierte Ereignis funktioniert nur dann, wenn der Film,  um den es herum aufgebaut wird, Substanz hat, wenn das Vertrauensband zwischen Kurator und Zuschauer hält. Das geht nicht durch serielle Massenware, sondern ausschließlich durch Unikate, die sich dem anschwellenden Bildersturm entgegenstellen, aus ihm herausragen -  durch fundierte Recherche, eigene Handschrift, der Transparenz der Mittel, ja und durchaus – auch einem Unterhaltungswert. Und die zugleich auch mit einem Namen seines Machers bürgen. Dafür muss dieser Name aber aufgebaut, d.h. gepflegt werden, von Förderern, Produzenten, Redakteuren, Verleihern.
Dann wird der Dokumentarfilm genau die Zukunft haben, die er braucht und verdient. Jetzt und in 20 Jahren.

Kirche im Meer Post2PDF

von Fritz Wolf

Die weltberühmten Verpackungskünstler Christo und Jeanne-Claude erläutern in München vor großem Publikum ihre Projekte und verkünden die Botschaft, dass man Durchhaltewillen braucht. Dreimal sei der Plan, den Reichstag zu verhüllen, zunächst abgelehnt worden. Im Publikum sitzen zwei junge Münchner Architekten, Anne Niemann und Johannes Ingrisch. Sie sind nicht berühmt, aber sie haben auch ein Projekt im öffentlichen Raum, das ihnen Durchhaltevermögen abverlangt. Es wird am Ende des Films abgelehnt werden - und Johannes Ingrisch wird vermuten, das wäre nicht geschehen, wenn sie nicht Newcomer, sondern schon berühmte Architekten wären.

“Lost Town” ist der Titel ihres Projekts, und so lautet auch der Titel des Films. Die beiden Architekten haben einen Wettbewerb einer britischen Entwicklungsagentur gewonnen, die mit Kunstprojekten an der britischen Ostküste den Tourismus beleben will. Seit vielen Jahren erodiert die Küste, Land ist im Meer verschwunden, Kirchen sind versunken und daran wollen die beiden Architekten mit einer Stahlskulptur auf dem Meer erinnern, die die Konturen der Kirchen zeichnet, zugleich Wasser und Licht im Wechsel spiegelt. Nicht billig, das Ganze, etwa vier Millionen Pfund sollte es kosten. Das war 2004.

Aber die Hoffnungen erodieren allmählich wie die Küste. In der kleinen Stadt Dunwich scheitert das Projekt am Votum der Einwohner, die lieber alles beibehalten wollen wie bisher. Projekt abgelehnt. Danach stockt das Vorhaben. Dann, ermuntert von Christo, machen die beiden sich wieder auf die Suche nach einem anderen Ort und finden Walton on Naze. Auch hier öffentliche Debatten, auch Gegner, aber mehr Befürworter, ein paar Promotoren im Ort. Doch es fehlt das Geld. Sponsoren müssen gefunden werden. Die britische Agentur zieht sich zurück, ein Windparkbetreiber sponsert lieber einen Fußballverein. Schließlich ein Architektenwettbewerb, der auf das Projekt genau passt, aber es gewinnen andere. Phasen der Niedergeschlagenheit, zwischendurch Brotarbeiten beider Architekten. Weitermachen oder aufgeben?

Der Dokumentarist Jörg Adolph filmt seine Protagonisten bei ihren stets neuen Anläufen, dreht die Diskussionen, begleitet die Recherche. 120 Stunden Filmmaterial wird er am Ende gedreht, mit vier Kameraleuten gearbeitet haben. Der aus diesem Material skulpturierte Film ist vielschichtig. Er erzählt von Leuten, die eine Idee haben und nicht aufgeben, sie verwirklichen zu wollen. Er erzählt vom Anfangen und von der Schwierigkeit, im Beruf eine gute Startposition zu finden. Er erzählt schließlich auch vom schwierigen Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Es finden sich immer genügend Menschen, die lieber Straßen oder Dächer repariert haben wollen, als ein luftiges stählernes Etwas auf dem Meer zu finanzieren.

“Lost Town” ist auch ein Film über alt und neu, über Lust und Unlust an der Veränderung. Ein britischer Stadtplaner, der in München lehrt, sagt einmal über seine Landsleute: “Sie haben das Selbstverständnis, so zu bleiben, wie sie sind. Sie können sich nicht daran erfreuen, modern zu sein. Suffolk und modern, das ist ein Widerspruch in sich.” Aber, macht er dann den beiden ratsuchenden Architekten Mut: “Projekte wie diese kommen manchmal zurück, sie schlafen nur.”

Jörg Adolph erzählt all dies in Bildern und Szenen, ohne Kommentar. Der Stoff des Films sieht auf Papier trocken aus, der Film selbst aber ist spannend und interessant. Das liegt auch an seiner Grundhaltung. Es vermittelt sich, dass er ins Offene hinein gedreht wurde, ohne Wissen darum, ob das Projekt gelingen, die Kirchen im Meer gebaut würden. Der Regisseur hat, als er von dem Projekt hörte, erst einmal auf eigene Faust und mit Mini-DV zu drehen begonnen. Es war auch später schwer, den Film finanziert zu bekommen. Es ging Adolph ein wenig wie dem Projekt. “Es ist gar nicht so einfach”, sagt der Filmemacher, “jemandem verständlich zu machen, dass man Jahr für Jahr an einem Film arbeitet, der nicht auf eine simple Lösung zusteuert, sondern immer komplizierter, immer unbeschreiblicher wird.” WDR und BR, von allen Sendern dem Dokumentarfilm noch am meisten zugetan, haben sich zum Glück überzeugen lassen.

Adolphs Filme beschäftigen sich meist mit Menschen, die einem weit gesteckten Ziel beharrlich folgen. Die Tischtennis-Weltmeister werden wie Timo Boll (”Klein, schnell und außer Kontrolle”), den Ärmelkanal durchschwimmen (”Kanalschwimmer”) oder einen Roman schreiben (mit John von Düffel in “Houwelandt - Ein Roman entsteht”). Auch Anne Niemann und Johannes Ingrisch sind von diesem Typus. Und deshalb ist ihr Scheitern noch lange kein Ende.

Fritz Wolf, aus epd medien Nr. 28 vom 14. April 2010

LOST TOWN - Ein Lehrstück über die Wirren des Architektendaseins Post2PDF

Premiere hatte LOST TOWN auf dem Filmfest München 2009, danach folgten Vorführungen bei der Filmwoche Duisburg und beim Internationalen Filmfestival in Göteborg. Hier eine Filmkritik aus ungewohnter Quelle - Das Fachmagazin BAUWELT meint:

„Diesen Film sollten sich alle am Architekturstudium Interessierten anschauen, bevor sie sich für den Beruf des Architekten entscheiden. Die Geschichte ist im Grunde schnell erzählt: Die Absolventen Anne Niemann und Johannes Ingrisch gewinnen den hochdotierten internationalen Ideenwettbewerb „Landmark East“ in England. Presse und Fachwelt sind begeistert vom Entwurf ihrer Stahlskulptur vor der englischen Ostküste, der ein verständliches Bild für die Küstenerosion schafft, indem er die Silhouette längst versunkener Kirchen wiederauferstehen lässt. Für die Architekten aber beginnen hier erst die Tücken der Realisierung, die sich über mehr als fünf Jahre hinziehen.

Der Dokumentarfilmer Jörg Adolph hat die beiden vom Wettbewerbsgewinn an begleitet. Aus dem anfänglichen Interesse – Frischlinge realisieren ein Großprojekt – wurde eine Langzeitstudie, die von der Begeisterung für eine gute Idee, Bewohnerprotesten, dem Scheitern, der Suche nach Alternativen, Finanzierungsproblemen, treulosen Auftraggebern, Kampfgeist, Motivation und Frustration handelt.

Nach fünf Jahren Drehzeit haben der Regisseur und die Cutterin Anja Pohl aus 170 Stunden Rohmaterial 90 Minuten Film herausgemeißelt, die sich sehen lassen können. Sie liefern Direct Cinema vom Feinsten. Der Film kommt ohne Kommentar und Interviews aus und wirkt dadurch manchmal schon wie ein Spielfilm, der den Zuschauer mittels einer perfekten Dramaturgie sicher durch die Höhen und Tiefen des Projekts geleitet. Wie alle richtig guten Filme erzählt LOST TOWN dabei mehr als seine eigentliche Handlung.“ (BS in: Bauwelt 9/2010)

Eröffnungsrede von Claas Danielsen zu DOK Leipzig Post2PDF

Am 26.10.2009 hielt Claas Danielsen diese kämpferische Eröffnungsrede zum 52. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Wir geben die Rede hier in einem Ausschnitt wieder.

(…)
Ich bin in den letzten Wochen immer wieder von Journalisten gefragt worden, was das Besondere am Dokumentarfilm sei. Dokumentarfilme sind immer wieder überraschend. Durch die Augen der Filmemacher entdecke ich Unbekanntes oder lerne mir Vertrautes völlig neu kennen. Dokumentarfilme berühren oft unbequeme und verdrängte Fragen und thematisieren das Wesentliche.

Die Haltung des Filmemachers oder der Filmemacherin eröffnet mir einen Perspektivwechsel, eine neue Sicht auf die Welt. Ein wirklich guter Film zeichnet sich durch eine Haltung aus, die ich an der Wahl der Protagonisten, der Bilder, der Worte, der Töne, am Rhythmus, aber auch an den Auslassungen erkenne. Mit dieser subjektiven und authentischen Haltung zeigt und offenbart sich der Filmemacher, so wie sich auch die Protagonisten vor der Kamera zeigen. Natürlich machen sie sich dadurch auch angreifbar – gerade weil sie sich zeigen.

Ein guter Film öffnet mir einen Raum – einen Raum zum Nachdenken, zum Assoziieren, zum Verstehen, zum Sinnfinden. Er erklärt nicht alles, wagt Leerstellen, mutet mir Irritationen zu und schenkt mir so letztlich geistige Freiheit.
Ein guter Film öffnet mir auch den Raum für Gefühle, er ermöglicht mir ein emotionales Verständnis der Welt. Und er überlässt mir die Deutungshoheit – ich werde als einzigartiges geistiges, emotionales und seelisches Wesen ernst genommen.

Während künstlerische Dokumentarfilme mit Autorenhandschrift im Kino immer wieder Erfolge feiern, beobachte ich im Fernsehen seit Jahren die Verdrängung des Genres ins programmliche Abseits. Mir wird immer klarer, dass dies das Ergebnis einer gefährlichen Haltung Programmverantwortlicher gegenüber dem Zuschauer ist. Dieser wird oft für eingeschränkt aufnahmefähig und etwas zurückgeblieben gehalten und damit letztlich als unmündiger Bürger abgestempelt. Komplexe, ungewöhnliche und fordernde Themen und Erzählweisen sind ihm angeblich nicht mehr zuzumuten.

So setzt in den Dokumentationen des Formatfernsehens nach 30 Sekunden der Kommentar ein und zieht sich atemlos durch bis zu Minute 43, oder bei internationalen Produktionen bis Minute 52, unterbrochen nur von Interviews – alles muss leicht und eindeutig verständlich sein. Im Streben nach berechenbaren Einschaltquoten und sicherem „Audience Flow“ ist das Programm durchformatisiert worden. Festgefügte Sendungsrezepte haben das Medium erstarren lassen. Hinter diesen Formatfassaden verstecken sich die verantwortlichen Redakteure und machen sich unangreifbar. Eine redaktionelle Handschrift jedoch können sie nicht mehr hinterlassen. Sie zeigen sich nicht mehr.

Anstatt mit Neugier das Fremde zu erkunden und Vorurteile aufzubrechen, kommen Themen, die jenseits des regionalen oder nationalen Sendegebiets angesiedelt sind, fast nicht mehr vor. Bieten Sie einem Redakteur mal einen Filmstoff über Afrika an, in dem es nicht um wilde Tiere geht…

DOK Leipzig würdigt traditionell das Filmschaffen aus Ländern abseits der gut subventionierten, westlichen Filmkultur und versucht die filmischen Leerstellen in unserem Bewusstsein zu füllen. Deshalb widmen wir uns in diesem Jahr mit „T.I.A. – This is Africa“ dem afrikanischen Dokumentar- und Animationsfilm und lassen unser Publikum eintauchen in die Lebensrealitäten in den Ländern südlich der Sahara. Wir wagen den Blick hinter die Schlagzeilen von Armut, AIDS und Bürgerkriegen. Durch die Augen der einheimischen Regisseure können wir ein Afrika jenseits der Klischees entdecken, das reich ist an Kultur, an Mut, an Einfallsreichtum, an Lebenswillen – aber natürlich auch an Schmerz, Verletzungen und Verlust. Ich begrüße unsere Gäste aus Afrika besonders herzlich in Leipzig!

Bei DOK Leipzig können Sie übrigens alle Filme in ihrer Originalsprache genießen. Wann haben Sie im deutschen Fernsehen den letzten untertitelten Film gesehen? Auf ARTE? Vor 0.00 Uhr? Fremdsprachen werden in Deutschland nicht untertitelt, sondern wegsynchronisiert. Machen wir uns mal klar, was da passiert: Den Menschen vor der Kamera wird ihre Stimme genommen! Und wir als Zuschauer können ihre Emotionen nicht mehr hören. So werden wir sowohl des authentischen Gefühls als auch des Wohlklangs ihrer Stimmen und ihrer Sprachen beraubt. Wie unsere Zeit, so auch das Fernsehen: Rationales Verständnis statt sinnlichem Erleben.

Nein, ich möchte mich nicht in der wohlfeilen Schelte auf das Fernsehen verlieren und die Gräben zwischen der Filmszene und dem Medium vertiefen. Schließlich sitzen wir alle in einem Boot und können nicht ohne einander. Und doch kann ich als sehender und hörender Mensch nicht umhin festzustellen, dass sich das öffentlich- rechtliche Fernsehen freiwillig zum reinen Massenmedium hat degradieren lassen. Wir nähern uns dem kleinsten gemeinsamen Nenner und bekommen das geboten, was am wenigsten weh tut. Wir mauern uns mental ein und erzeugen ein Wir-Gefühl der Verängstigten. Seien wir ehrlich: Die vordringlichste Aufgabe des Fernsehens ist nicht mehr Bildung, Aufklärung und gesellschaftliche Teilhabe, sondern die Ruhigstellung der vielen sozial absteigenden Menschen.
In dieser Situation wird der Dokumentarfilm, geschweige denn etwas so unkontrollierbares, fantastisch wildes und manchmal auch anarchisches wie der animierte Kurzfilm, in den Büros der Programmplaner nicht mehr wertgeschätzt, von den Produktionsleitern nicht mehr anständig finanziert und im Programm nicht mehr angemessen platziert. Doch ohne das Fernsehen kann der Dokumentarfilm – zumindest momentan – nicht existieren. Und das Fernsehen verarmt inhaltlich und ästhetisch, verliert breite Zuschauerschichten und wird immer irrelevanter. Wann endlich werden von den Marktforschungsinstituten die Nicht-mehr-Fern-Seher gezählt?! Ich nenne das mal die „Schattenquote“.

Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen in den von uns allen finanzierten Funkhäusern auf: Steuern Sie um und widerstehen Sie. Zeigen Sie sich! Zeigen Sie ihre Frustration und Wut, die ich in Gesprächen mit intelligenten Redakteuren immer wieder höre. (…)

Soweit Claas Danielsen. Die gesamte Rede können Sie auf der Seite von Dokfestival Leipzig nachlesen: http://www.dok-leipzig.de/v2/cms/de/dok-festival/dok-extra/page920.html

Religion rot-weiß Post2PDF

Von Mark Stöhr

In München haben sich drei Filmkreative zu einem Autorenkollektiv zusammengeschlossen. DocCollection versteht sich als Plattform für den ambitionierten Dokumentarfilm und bringt im Jahr drei bis vier DVDs heraus. Die nächste Publikation: Melanie Liebheits Wiedergeboren in Westfalen.

Das hätte sich Lisa auch nie träumen lassen. Daß sie einmal zu einer heiligen Kuh wird. Bis vor zwei, drei Jahren führte sie ein ganz normales Leben zwischen Stall und Wiese irgendwo im Ruhrgebiet. Dann kam ein Priester in einem bunten Gewand und beguckte sie sich wie ein Scout einen Nachwuchsspieler. Sie bekam den Job. Der war nicht ohne: Scheißen bei der Einweihung des neuen Hindu-Tempels. Lisa durfte erst wieder nach Hause, nachdem sie auf den teuren Marmorboden eine ordentliche Ladung geschissen hatte. Seitdem ist sie eine heilige Kuh und ihr Bauer mächtig stolz auf sie.
Für das große Tempelfest sollen es aber zwei Elefanten sein. 20.000 Exil-Tamilen aus ganz Europa werden erwartet. Priester Sri Paskaran flüchtete selbst 1985 aus Sri Lanka nach Deutschland und ist ihr geistliches Oberhaupt. Der Gott Shiva hat seitdem eine deutsche Bodenstation: in Hamm-Uentrop. Das mit den Elefanten gestaltet sich schwierig. Die Frau vom Zirkus hat nichts gegen Blumenketten und bunte Punkte auf der Stirn. Aber den Tempelwagen ziehen? Ausgeschlossen, das packen sie nicht. Der Priester hängt zwischen Telefon und Terminplan. Die Straße vor dem Tempel muß geteert werden, damit sich die Selbstkasteier beim Umzug darüber rollen können. Und sind genügend Parkplätze vorhanden für den großen Tag?
Melanie Liebheit ist eine hinreißende Erzählerin. Ihr Dokumentarfilm Wiedergeboren in Westfalen verfolgt den Alltag des pragmatischen Priesters und seine Vorbereitungen für den Höhepunkt im Festkalender mit der perfekten Mischung aus Respekt und Humor. Die Konstellation an sich ist schon eine Pointe: Ein hinduistischer Tempel mitten in einem Gewerbegebiet. Drumherum nur eine Imbißbude und ein Krämerladen, deren Besitzer und Gäste sich an die Religiösen und ihre komischen Riten gewöhnt haben, aber trotzdem nicht so recht wissen, was das alles soll. Sie fiebern ihrem eigenen Highlight entgegen: dem alljährlichen Schützenfest.
Andere Dokumentaristen hätten daraus einen kontrastiven Clash der Kulturen gemacht oder einen harmonisierenden Brückenschlag zwischen den Gegensätzen. Liebheit nicht. Sie läßt das Fremdsein fremd sein und arbeitet fein die beiden Pfeiler des Zusammenlebens heraus: Arrangement und Differenz. Hindus, die zur rituellen Waschung in einen Industriekanal unter einer Autobahnbrücke steigen, und schnapsselige Schützenbrüder in Militäruniformen werden keinen gemeinsamen Kulturverein gründen. Müssen sie auch nicht. Davon handelt dieser Film.
Liebheit, Absolventin der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film, kommt fast ohne Interviews aus. Ihr reichen ihre präzise beobachtenden, manchmal pointiert zugespitzten Bilder. In einigen Situationen läßt sie die Einstellungen einen Tick länger stehen, als es für die Erzählung eigentlich nötig wäre. Es sind die wunderbaren Momente, in denen die Protagonisten sich aus ihrer Filmrolle lösen und sich wieder entspannen. Ein Augenzwinkern, ein fragendes Lächeln war ich gut? Ein solches Timing macht den Unterschied zur dokumentarischen Standardkonfektion. Das - und das Warten-Können. In einer Szene ganz am Ende steht der Krämer allein in seinem Laden. Die Pilger sind wieder abgefahren, die Schützen schlafen ihren Rausch aus. Keine Kunden, nichts passiert. Dann klingelt das Telefon. Die Züge des Mannes hellen sich auf, er sagt: »Das ist doch mal was anderes« und hebt ab. Auf der anderen Seite: niemand. Die Stagnation der Eingesessenen kondensiert in einem Bild und wirkt umso zementierter vor dem Hintergrund der wuseligen tamilischen Migranten mit ihren immer neuen Projekten.

Wiedergeboren in Westfalen erscheint im August als DVD beim neuen Autorenkollektiv DocCollection. Vor gut einem Jahr haben sich zwei Filmemacher und ein Produzent zusammengetan, um dem ambitionierten Dokumentarfilm eine unabhängige Plattform zu schaffen. Einer von ihnen ist Jörg Adolph, mit Filmen wie On/Off the Record (2002), Kanalschwimmer (2004) oder Houwelandt - Ein Roman entsteht (2005) vielfach ausgezeichnet. Dokumentarisches Gelingen, heißt es auf ihrer Website, sei zu flüchtig, »als dass es sich mit Formatvorgaben und Quotenerwartungen auf Dauer verheiraten ließe.« Und weiter: »Also benötigen wir zeitweiligen Unterschlupf in kulturellen Nischen.« Melanie Liebheit und ihr Film sind dort gut aufgehoben.

Mark Stöhr in: Schnitt #55/Juli 2009